Als das letzte Kind aus dem Klassenzimmer rannte, waren nur noch Oliver und Mrs. Belfry übrig.
Er sah sie schuldbewusst an und schluckte. Er hatte seine Kräfte offenbart. Schnell ging sie zur Tür und verschloss sie.
„Wer bist du?“, fragte sie eindringlich.
Oliver schämte sich und spürte eine schwere Last auf den Schultern. Was dachte sie jetzt über ihn? Hielt sie ihn für einen Freak wie alle anderen? Hatte sie Angst vor ihm?
Sie kam wieder auf ihn zu. „Wie hast du das gemacht?“
Als sie vor ihm stand, sah Oliver weder Furcht noch Abscheu in ihren Augen. Vielmehr glaubte er Bewunderung und Ehrfurcht in ihrem Blick zu lesen.
Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben ihn. Dabei sah sie ihm tief in die Augen. Sie sprühte vor Neugier. „Wer bist du, Oliver Blue?“
Oliver dachte wieder an seinen Kompass. Er hatte sie hierher gebracht, zu Mrs. Belfry. Das Universum hatte ihn zu ihr gebracht und er war sicher, dass er ihr vertrauen konnte. Vielleicht wäre sie sogar imstande, ihm zu helfen. Er schluckte seine Aufregung herunter und begann zu sprechen.
„Ich habe gewisse Kräfte“, begann er. „Kräfte über die Elemente und die Naturgesetze. Ich kann durch die Zeit reisen und die Geschichte verändern.“
Mrs. Belfry lauschte jedem seiner Wörter. Dabei sah sie ihn fasziniert an.
„Ich wusste, dass du anders bist. Ich habe es gespürt“, flüsterte sie.
Sie hielt ihn also nicht für einen Freak. Im Gegenteil. Sie klang, als wäre sie tief beeindruckt. Sein Herz machte vor Freude einen Sprung.
„Sie glauben mir?“, fragte er vorsichtig.
Sie nickte. „Ja, Oliver. Ich glaube dir!“ Dann rutschte sie ihren Stuhl noch etwas näher an ihn heran. „Bitte erzähle mir alles.“
Das tat Oliver. Er begann mit dem Tag des Sturms. Für Mrs. Belfry war es erst gestern gewesen, aber für Oliver lag ein halbes Leben dazwischen.
Er erzählte ihr von Armando Illstrom und von Lucas. Er erzählte ihr davon, wie er Ralph Black begegnet war und mit ihm in die Schule für Seher gegangen war. Er versuchte zu erklären, wie die Schule zwischen den Dimensionen existierte und nur über ein Portal im Jahr 1944 betreten werden konnte. Er erzählte ihr vom Unterricht dort, von Dr. Ziblatt und dem interdimensionalen Sehen, von den fliegenden Esstischen, von Hazel Kerr, Simon Cavendish und Walter Stroud, dem fabelhaften Switchit-Spieler. Er erzählte ihr auch von Professor Amethyst und seiner sechsten Dimension, von der Kugel von Kandra, den Schlafkapseln und dem Treffen mit Esther Valentini. Er erzählte ihr, wie die Schule angegriffen wurde und er durch die Zeit gereist war, um die Atombombe der Nazis zu zerstören. Er zeigte ihr das Amulett, das Professor Amethyst ihm gegeben hatte, das leuchtete und heiß wurde, wenn sich ein Portal zur Schule öffnete.
Und schließlich erzählte er ihr auch von seiner Familie, die nicht seine richtige Familie war, und von seinem Plan, seine leiblichen Eltern aus seinen Visionen ausfindig zu machen.
Als er sich alles von der Seele geredet hatte, sah er sie schweigend an.
Mrs. Belfry nickte langsam. Sie sah aus, als versuchte sie das, was er ihr gerade erzählt hatte, zu verarbeiten. Es war ganz schön viel auf einmal gewesen. Oliver hoffte, dass ihr Gehirn nicht explodierte.
„Faszinierend“, sagte sie schließlich und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Noch immer sah sie ihn bewundernd an.
Oliver wartete unsicher ab, was sie als nächstes tun würde.
Dann tippte sie sich ans Kinn. „Würdest du mir diesen Kompass einmal zeigen?“
Er holte ihn aus der Tasche und gab ihn ihr. Sie sah ihn sich lange an. Dann machte sie große Augen.
„So einen habe ich schon einmal gesehen!“
„Wirklich?“
„Ja! Bei Professor Nightingale in Harvard. Er ist einer meiner Universitätsprofessoren, der brillanteste Mensch, der mir je begegnet ist.“
Ihre Aufregung war spürbar. Oliver beobachtete, wie sie aufsprang und zu einem großen Bücherregal ging. Sie zog ein dickes Textbuch heraus und reichte es Oliver.
Oliver beäugte es neugierig. Theorie der Zeitreise, stand darauf. Rasch hob er den Blick und sah ihr ins Gesicht. „Ich… ich verstehe nicht…“
Mrs. Belfry setzte sich wieder. „Professor Nightingale hat sich auf das Konzept der Zeit spezialisiert.“
„Denken Sie, er ist auch ein Seher?“, rief er aufgeregt. Er hatte gedacht, dass es in seiner Zeitachse keine anderen Seher geben würde, aber vielleicht war dieser Professor Nightingale wirklich einer. Vielleicht hatte ihn der Kompass deswegen zu Mrs. Belfry geführt.
„Immer wenn er über einen Erfinder gesprochen hatte, kam es mir vor, als hätte er ihn persönlich gekannt.“ Fassungslos legte sie eine Hand vor den Mund. „Womöglich ist er wirklich durch die Zeit gereist, um sie zu treffen!“
Oliver war überwältigt. Sein Herz schlug schneller. Mrs. Belfry legte ihre Hand auf seine und das beruhigte ihn etwas.
„Oliver“, sagte sie sanft. „Ich denke, du solltest zu ihm gehen. Ich glaube, dass der Weg zu deinem Schicksal und zu deinen Eltern über ihn führt.“
Kaum hatte sie das ausgesprochen, riss sie staunend die Augen auf.
„Oliver, sieh doch!“
Die Drehscheibe auf seinem Kompass bewegte sich. Ein Pfeil zeigte jetzt auf ein Eichenblatt und die zweite auf ein vogelähnliches Symbol. Der dritte Pfeil blieb auf dem eckigen Hut für Universitätsabsolventen stehen.
Oliver staunte.
Er zeigte auf das Blatt. „Boston“, dann auf den Vogel, „Nightingale“ und schließlich auf den Hut „Professor“. Er war wahnsinnig aufgeregt. „Sie haben recht! Ich muss nach Boston gehen und den Professor treffen. Dort werde ich den nächsten Hinweis finden.“
Mrs. Belfry kritzelte etwas auf ihren Block und riss die Seite heraus. „Hier, das ist seine Adresse.“
Oliver nahm das Papier an sich und las die Adresse. Das war also das nächste Ziel auf seiner Reise. Ob Professor Nightingale wirklich ein Seher war?
Er faltete das Blatt ordentlich zusammen und steckte es in seine Tasche. Er wollte sofort aufbrechen.
„Warte“, sagte Mrs. Belfry. „Das Buch, Oliver“, sagte sie und legte ihm Professor Nightingales Abhandlung über Zeitreisen in die Hand. „Ich möchte, dass du es mitnimmst.“
„Danke“, flüsterte Oliver gerührt. Mrs. Belfry war wirklich die beste Lehrerin, der er je begegnet war. Er drückte das Buch fest an sich und rannte zur Tür.
„Oliver! Wirst du je zurückkommen?“, rief sie ihm hinterher.
Er drehte sich noch einmal zu ihr um. „Ich weiß es nicht.“
Sie nickte ihm traurig zu. „Dann bleibt mir nur noch übrig, dir bei deiner Suche von ganzem Herzen viel Glück zu wünschen. Ich hoffe du findest, wonach du suchst, Oliver Blue!“
Ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit machte sich in seinem Herzen breit. Ohne Mrs. Belfry hätte er diese ersten furchtbaren Tage in New Jersey nicht überstanden. „Ich danke Ihnen für alles, Mrs. Belfry.“
Damit stürmte er aus dem Klassenzimmer. Er konnte es kaum erwarten, in den nächsten Zug nach Boston zu steigen und Professor Nightingale persönlich gegenüber zu stehen. Doch zuvor hatte er noch eine letzte Aufgabe an dieser Schule.
Er musste sich um die Bullys kümmern.
Da läutete die Schulglocke zur Mittagspause.
Dieses eine Übel musste er noch aus der Welt schaffen.
*
Schnell rannte er die Treppen hinunter, dem Geruch von abgestandenem Frittierfett entgegen. Er hatte so lange mit Mrs. Belfry geredet, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie viel Zeit vergangen war.
Perfekt, dachte Oliver.
Er ging in die Aula, wo sich bereits alle Schüler versammelt hatten und jetzt wild durcheinanderschrien. Bald entdeckte er Paul und Samantha, die beiden Tyrannen aus seiner Klasse. Sie sahen ihn auch und zeigten tuschelnd auf ihn. Auch die anderen Kinder drehten sich lachend zu ihm um. Er entdeckte auch die Kinder, die auf dem Pausenhof die anderen mit ihren Bällen beworfen hatten und die Kinder aus Mr. Portendorfers Unterricht, die alle über ihn gelacht hatten.
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