Chor der Darmbakterien I – Der Nibelungenhort
DARMBAKTERIEN
Oho
Hört, hört
Geschwister hört
Habt ihr das gehört
Jetzt zuletzt
Haben sie uns zum Schatz erklärt
Nachdem sie alles
Alles, alles, alles
Aus der Tiefe der Erde
Der Berge, der Meere
Gebohrt, abgebaut
Geborgen, geraubt
Weißes Gold, Schwarzes Gold, Rotes Gold
Sich immer im rechtmäßigen Besitz geglaubt
Jetzt zuletzt
Sollen wir
Ihr Hort sein
Wir, die wir bisher
Mit Scham behaftet
Mit Ekel betrachtet
Als Kot verachtet
Nur an einem Ort
Dem stillen Örtlein
Zum Vorschein
Treten durften
Aus Notdurft
Unscheinbar klein
Sollen nun ihr Rheingold sein?
Doch ist das Rheingold
Ein Sold, den teuer bezahlen solle
Wer sich seiner bemächtigen wolle
Jede Sage
Die von ihm berichtet
Beschreibt es
Jeder Vers
Der über es gedichtet
Verheißt es:
Der Fluch der Gier
Schlimmer, der Nidgier
Lastet auf ihr
Der glänzenden Pracht
Streng bewacht
Von Zwergen, Rheintöchtern, Riesen, Drachen
Egal ob Hagen
Der ihr den Gatten Siegfried erschlagen
Die Erbin Kriemhild des Hortes beraubt
Da ihm vor solchem Reichtum in ihren Händen graut
Was ihre Wut nur weiter schürt
Und die Nibelungen in den Untergang führt
Oder ob der Zwerg Alberich
Den Rheintöchtern, die es bewachten
Und die ihn erst verlachten
Das Gold aus den Wassertiefen entreißt
Weil es heißt, dass schweißt man es zum Ringe
Man Macht über die ganze Welt gewinne
Das Schmiedstück jedoch nur jenem gelinge
Der sein Herz verschließe jeglicher Minne
Oder ob sich die Nibelungen
Im Kampf umschlungen
Darum erschlugen
Riesen wie ihr
Vielleicht riesiger
Und doch sind wir Winzlinge es wert
Dass man uns so begehrt:
Vermehrt in rasender Schnelle
Pflegen wir Zote und Zelle
Trainieren eure Immunsysteme
Vernichten Gifte, produzieren Proteine, Vitamine
Und fünfundneunzig Prozent eurer Glückshormone
Und vermögen es
Über den Vagusnerv
Der durchs Bauchfell
Zwischen Lunge und Herz
Längs der Speiseröhre entlang
Seine Enden direkt ins Gehirn streckt
Geradewegs Reize bis ins Frontalhirn zu senden
TÜV-PRÜFER
Ich weiß nicht, warum Autos nicht aus Glas sind.
Aus Plexiglas, mein ich. Panzerglas. Bruchsicher natürlich.
Aber durchsichtig.
Durch und durch durchsichtig.
Ich weiß nicht, warum ich mich das nie gefragt habe.
Ich bin rückwärts aus dem Hof gestoßen und rechtsrum auf die Straße gebogen. Und hab dabei vielleicht einen Millimoment zu lang in den Rückspiegel geschaut, denn in dem Augenblick, in dem ich nach vorn setz, hör ich auch schon das leise Boff. Oder Flapp. Ich möcht fast schwörn, es war genau beim Einlegen vom Vorwärtsgang. Ich denk noch, es hängt was in der Gangschaltung. Als ich den Kopf nach vorn dreh. Boff. Ich wusst überhaupt nicht, wo das herkam. Rechts von mir alles zugeparkt, ohne Parkstreifen, alle halb auf dem ohnehin schmalen Gehweg. Ein leises Flapp. Wie ein Flügelschlag. Jeder hat das schon mal erlebt, wenn ein Vogel gegen die Fensterscheibe fliegt.
Der Aufprall war minimal, das kann ich beschwörn, weil das kleine Plastikröhrchen, eben befüllt mit meiner ersten Stuhlprobe für das Darmbakterienforschungsexperiment, rollt von der Erschütterung nicht mal vom Armaturenbrett runter. Ich schieb es wieder nach vorn, bis an die Scheibe, es ist noch warm und abertausende Bakterienaugen scheinen mich vorwurfsvoll daraus anzustarrn.
Weil ich Kohle mit ihnen machen will, anstatt sie in die Freiheit des Orkus gespült zu haben?
Oder haben sie etwas gesehen?
Es sind gar keine Augen!
Das sind kleine Bläschen, die sich zwischen den Scheißepartikeln spannen, und die sich darin verfangenden Lichtstrahlen, die durch die Frontscheibe fallen, bringen das Ganze zum Glitzern.
Es ist weit und breit niemand zu sehen.
Ich steig also aus, um nachzusehen, da platzen mir die Augen auf, ich fass mir ins Gesicht, um sie auszukratzen, ich will nicht, dass mein Autoreifen Beine hat, dass er Füße hat, die neben dem Auto hervorragen, kleine, grüne Lederschühchen, nicht zugeschnürt, mit roten Kappen, einer Naht, die gleichmäßig verläuft wie ein winziger Mittelstreifen, die Kappen als Gipfelchen in den Himmel gereckt. Ich hatte noch nie so schöne Kinderschuhe gesehen, ich hatte mir überhaupt noch nie Kinderschuhe angesehen, ich hatte mir auch das Kind noch nicht angesehen.
Es läuft warm mein Gesicht herunter, dickflüssig, vielleicht ist es der Augensaft in dem die Iris schwimmt, oder schon das, was aus den leeren Höhlen aus dem Innern meines Kopfes rinnt, ich zerfließe und was da läuft, das brennt fürchterlich, als liefe es über das rohe Fleisch, Sehnen, Adern, die sich wie Würmer daran entlanghangeln, an die Knochen klammern und verhindern, dass das Gesicht ganz auseinanderfällt, die feine zivilisatorische Schicht, die es zusammenhielt, ihm einen gesitteten Ausdruck verlieh, muss aufgerissen sein und mir in Fetzen von den Schläfen hängen. Ein blutiges, glitschiges Monster beugt sich zu dem Kind herunter, das friedlich daliegt, der Länge nach ausgestreckt, nichts ist verdreht, als schliefe es, das Gesicht unversehrt. Gerade als ich meine Hand nach ihm ausstrecke, öffnet sich die Hand des Kindes und ein kleines Auto fällt daraus heraus auf den Asphalt und kullert unters Auto mit einem Scheppern, das sich bei jedem erneuten Aufprall auf dem Boden in meinen Ohren zu so einem massiven Krach verstärkt, als rieben sich die tektonischen Platten aneinander, ich erwarte jeden Augenblick, dass der Beton unter uns birst und der Erdriss mich und das Kind verschlingt, reflexartig werfe ich mich unters Auto, um das Spielzeugauto zu fassen, das Richtung Gulli rollt, während ich nach dem kleinen Rettungswagen greife, versuche ich zu begreifen, dass mir das passiert ist. Mir, der ich immer gepredigt hab, Unfälle passieren nicht, sie werden gemacht.
In meinem Kopf ist kein Platz für das Unbegreifliche, ich ertappe mich dabei, wie ich mich schon mit organisatorischen Fragen beschäftige, ich müsste in der Werkstatt anrufen, dass ich später käme, dass ich gar nicht käme, dass ich nie mehr käme, da schlägt das Kind die Augen auf:
- Auto –
Murmelt es, deutet scheu über sich, mein Puls beschleunigt mit mindestens 70 PS, mein Herz schlägt Purzelbäume –
- We-Bus?
Fragt es, da fällt mir der Krankenwagen ein, den ich noch fest in der zusammengekrampften Faust halte. Mir kommt es vor, als müsste ich Eisenstangen auseinanderbiegen, als ich die Finger zu öffnen versuche, ein wahres Jahrmarktkunststück wie ich die Hand aufkriege mit zusammengebissenen Zähnen, seht her, der stärkste Mann der Welt! Innen liegt glänzend vom Schweiß der winzige VW-Krankentransporter, den sich der kleine Junge mit einem scheuen, schnellen Handgriff schnappt.
- Theo dei.
- Was?
Redet der Englisch?
- Nein, nein, dir gehts gut. Alles gut –
- Theo dei. Dei –
Er zeigt es mit den Fingern.
- Ach drei. Ja, ein alter T3. Toll!
- Toll.
- Ja.
- Theo dei –
- Du? Du bist drei?
- Theo drei?
Theo zieht sich an der Stoßstange hoch, läuft unvermittelt los, als ob es ihn schwindelt, suchen die Hände nach zwei Schritten Halt, greifen ins Leere, dabei fällt ihm der kleine T3 erneut aus dem Händchen, landet mit einem Klack, klack, klack auf dem Asphalt, das nichts von dem ohrenbetäubenden Krach von vorhin hat. In der Luft tastend findet der Junge doch noch sein Gleichgewicht, der erschrockene Blick schwindet und weicht einem erwartungsfrohen Gesicht. Mit einem Zufriedenheitsseufzer läuft er dann, ohne sich noch einmal umzusehen, auf eine angelehnte Tür zu.
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