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Ich habe kein schlechtes Leben auf Ikaria. Als ehemalige Volksschullehrerin kenne ich natürlich alle in meinem Dorf, habe sie alle unterrichtet. Trotzdem bin ich immer „die Fremde“ geblieben, die 1969 aus Athen auf diese von Gott vergessene Insel verbannt wurde. Mit einem Gefangenentransport und einer Kugel im Kopf. Abgefeuert aus dem Revolver eines rechtsradikalen Polizisten. Die Kugel hat zum Glück nur meine Stirn gestreift. Trotzdem gelte ich seit damals als nicht ganz richtig im Kopf. Zumindest behaupten das manche Inselbewohner. Die Delle an meinem Schädel sieht man bis heute. Ich versuchte nie, sie mit einem Pony oder Seitenscheitel zu kaschieren, bin stolz auf dieses Zeichen meines Widerstandes gegen die Faschisten, die ganz Griechenland von 1967 bis 1974 terrorisierten.
Der Doktor, der viele Jahre älter war als ich, galt ebenfalls als Außenseiter, obwohl er sich bereits in den Fünfzigerjahren als Arzt auf Ikaria niedergelassen hatte. Er lebte sehr zurückgezogen, war schwer krank. Kein Wunder, hatte er doch die Hölle von Makronissos, den „Teich von Siloah“, wie diese Insel des Schreckens ironisch genannt wurde, nur knapp überlebt. In den Teich von Siloah wurde das Wasser der Gihonquelle des Berges Zion geleitet, sie galt als heiliger Ort, weil dort angeblich Salomo zum König über ganz Israel gesalbt wurde.
Ich bin keine Jüdin, sondern Atheistin und Kommunistin. Atheist und ein Linker war auch der Doktor. Von 1946 bis 1949, während des griechischen Bürgerkriegs, war er gemeinsam mit dem berühmten griechischen Dichter Jannis Ritsos auf dieser Todesinsel in Verbannung. Eine karge Insel, zwölf Kilometer lang und zweieinhalb Kilometer breit. Nicht weit entfernt von Athen. Für die Gefangenen bedeutete sie das Ende der Welt.
Als 1967 das Militär unter Oberst Papadopoulos mit Hilfe der Amerikaner, vor allem des CIA, putschte, um einen Wahlsieg der linken und demokratischen Parteien zu verhindern, brach erneut eine Zeit des Terrors, der Folter und der Vernichtung an. Der Doktor wurde wieder auf diese felsige, wasserlose Insel verbannt, auf der die Sommer glühend heiß und die Winter stürmisch und saukalt sind. Bei seiner zweiten Gefangenschaft brachen ihm die Faschisten tatsächlich das Rückgrat. Mit einem schweren Wirbelsäulenschaden und auf einem Auge erblindet, schickten sie ihn halbtot zurück nach Ikaria. Jannis Ritsos, der ebenfalls zweimal auf Makronissos interniert und mehrmals gefoltert worden war, lebte bis zum Ende der Diktatur 1974 unter Hausarrest auf der Insel Samos.
Der Doktor überlebte auf Ikaria in den Wäldern bei Christos Raches. Erst nach der Befreiung bezog er wieder seine Villa in Evdilos. Ich hatte ihn in den Wäldern, wo auch ich die Nacht zum Tag gemacht hatte, kennengelernt. Nach dem Sturz der Obristen nahm er mich bei sich auf und verschaffte mir Arbeit als Lehrerin an der Dorfschule. Ich durfte bei ihm wohnen und führte ihm den Haushalt, pflegte ihn, so gut ich konnte. Er bewohnte das obere Stockwerk, ich das untere. Wir waren kein Liebespaar. Nicht nur, weil er zu alt für mich war, sondern auch, weil ich nach dem Tod meines geliebten Mannes keinen anderen mehr wollte.
Trotz allem, was man ihm angetan hatte, war der Doktor ein großer Menschenfreund und Tierliebhaber. Vor allem Katzen liebte er über alles. Ich mochte keine Katzen. Als Athenerin war ich nicht an diese wilden Tiere gewöhnt. An den stürmischen Winterabenden saßen der Doktor und ich gerne vor dem Kamin im Salon. Ein halbes Dutzend Katzen strich an diesen gemütlichen Abenden um unsere Beine. Er nahm die eine oder andere oft auf seinen Schoß und kraulte sie zärtlich. Wenn er nicht zu Hause war, verjagte ich die Biester meistens.
An jenen langen Abenden las ich ihm aus seinen Büchern vor. Wenn ich Gedichte von Jannis Ritsos rezitierte, leuchtete sein gesundes Auge auf. Manchmal erzählte er mir von der Tapferkeit dieses Dichters, der sich standhaft geweigert hatte, seine politische Gesinnung zu verleugnen und ein „guter“ Grieche zu werden, wie die Faschisten es von ihm verlangt hatten. Laut dem damaligen Innenminister Pattakos waren ja alle Kommunisten Bestien. So auch unser berühmter Komponist Mikis Theodorakis, der auch auf Makronissos interniert war und dem als Achtzehnjährigem dort von Folterknechten beide Beine gebrochen worden waren. Der Doktor hatte alle Schallplatten von Theodorakis, selbst die Filmmusik von „Alexis Sorbas“ und „Z“, obwohl er die Lieder und klassischen Kompositionen dieses international bekannten griechischen Widerstandskämpfers mehr schätzte. Als der Doktor Mitte der 1990er Jahre starb – er wurde trotz seiner vielen Leiden fast achtzig Jahre alt –, hinterließ er mir seine Villa mitsamt dem Inventar. Seither kümmere ich mich um die lästigen Katzen, besser gesagt, um ihre zahlreiche Nachkommenschaft.
Während ich in Gedanken in der Vergangenheit weilte, ließ ich das Paar, das eng nebeneinander an Deck stand, nicht aus den Augen. Die attraktive blonde Frau erinnerte mich an die freizügigen nordischen Schönheiten, die in den Siebzigerjahren unsere Männer verrückt gemacht hatten.
Als wir uns nach insgesamt viereinhalb Stunden Fahrt, mit zweieinhalbstündiger Verspätung wegen des Unglücks in Piräus, dem Hafen von Mykonos näherten, wurden wir von den sechs Windmühlen, die wie aufgefädelt auf einem Hügel oberhalb der Stadt thronten, schon aus weiter Ferne begrüßt.
Ich gesellte mich zu Alexandros und seiner neuen Bekannten an Deck.
„Sind sie nicht pittoresk?“, fragte Laura beim Anblick der weißen Windmühlen auf einem braunen Hügel. „Manchmal denke ich, irgendein Tourismusmanager hat sie absichtlich dorthin gestellt.“
„Sie stammen aus dem sechzehnten Jahrhundert“, konnte es sich Christina nicht verkneifen, die Österreicherin aufzuklären. „Mykonos gehört zur Inselgruppe der Kykladen und wurde nach Apollos Enkel Mykons benannt.“
„Das wusste ich nicht.“ Laura bedachte die alte Frau mit neugierigen Blicken.
Sie war flott gekleidet, trug eine marineblaue Leinenhose, ein blau-weiß gestreiftes Matrosenshirt, ohne rotes Herz auf dem Busen, und weiße bequeme Sneakers. Den weißen Seidenschal hatte sie wieder um ihren Kopf geschlungen. Der Wind war stärker geworden.
„Herakles hat die Riesen besiegt und sie ins Meer geworfen. Als sie zu Stein erstarrt sind, ist aus ihnen die Insel Mykonos entstanden“, fuhr Christina fort.
„Eine schöne Geschichte!“, sagte Laura.
„So wie alle griechischen Geschichten.“ Alexander verdrehte die Augen zum Himmel.
Christina ignorierte seinen Scherz. „Wenn Sie sich für die griechische Mythologie und die Antike interessieren, sollten Sie unbedingt einen Ausflug nach Delos machen“, empfahl sie Laura.
„Wegen der Löwen?“
„Ja, aber nicht nur. Die Originale, die die Bewohner von Naxos als Wächter für das Apollon-Heiligtum gespendet haben, befinden sich übrigens im Museum, doch die Kopien im Freien sind ebenfalls sehr beeindruckend …“
Alexander verkrampfte sich plötzlich. Der Revolver, den er hinten in seinem Hosenbund stecken hatte, war verrutscht. Zum Glück verdeckte sein Jackett die seltsame Ausbuchtung auf seinem Hinterteil. Er entschuldigte sich bei den Damen und begab sich auf die Toilette.
Die Stimme der Alten klang in seinen Ohren nach. Er kannte diese Stimme. Sie erinnerte ihn an irgendjemanden. Ihm fiel aber nicht ein, an wen.
„Diese unbewohnte Insel war in der Antike eine der heiligsten Stätten Griechenlands, da Apollo, der Gott des Lichtes, und seine Zwillingsschwester Artemis, die Göttin des Mondes, dort geboren wurden“, bemerkte Christina.
Laura, die sich für die griechische Mythologie begeisterte, seit sie in diesem Land lebte, hörte ihr aufmerksam zu.
„Die riesige Stadt, von der Sie noch die Überreste sehen können, ist circa hundertsechzig Jahre vor Christus entstanden, als Delos ein Freihafen wurde. Reiche Kaufleute und Schiffsbesitzer aus der ganzen Welt haben sich hier niedergelassen und Architekten, Künstler und die besten Handwerker angezogen, die für sie luxuriöse Villen, reich dekoriert mit Fresken und Mosaikböden, errichtet haben. Die kleine Insel ist zum größten Handelsplatz der damals bekannten Welt geworden. Der Reichtum und die freundschaftlichen Beziehungen der Bewohner zu den Römern sind Delos schließlich zum Verhängnis geworden. Achtundachtzig Jahre vor Christus hat Mithridates, der König von Pontus, ein Feind der Römer, die Insel angegriffen und geplündert. Ein paar Jahre später ist sie von Piraten überfallen worden. Das war das endgültige Ende dieser einst so prosperierenden Stadt.“
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