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Mein Vater hatte nicht Unrecht. Die Algebra-Aufgaben gerieten mir in den beiden nächsten Tagen so mäßig, dass der Rechenmeister mich von meinem ersten Platz herabzusetzendrohte. – Wenn ich in meinem Kopfe rechnen wollte: ›a + b gleich x – c‹, so hörte ich stattdessen vor meinen Ohren die feine Vogelstimme der schönen Genovefa: ›Ach, mein herzallerliebster Siegfried, wenn dich die bösen Heiden nur nicht massakrieren!‹ Einmal – aber es hat niemand gesehen – schrieb ich sogar ›x + Genovefa‹ auf die Tafel. – Des Nachts in meiner Schlafkammer rief es einmal ganz laut ›Pardauz!‹ und mit einem Satz kam der liebe Kasperl in seinem Nankinganzug zu mir ins Bett gesprungen, stemmte seine Arme zu beiden Seiten meines Kopfes in das Kissen und rief grinsend auf mich herabnickend: ›Ach, du liebs Brüderl, ach, du herztausigliebs Brüderl!‹ Dabei hackte er mir mit seiner langen roten Nase in die meine, dass ich davon erwachte. Da sah ich denn freilich, dass es nur ein Traum gewesen war.
Ich verschloss das alles in meinem Herzen und wagte zu Hause kaum den Mund aufzutun von der Puppenkomödie. Als aber am nächsten Sonntag der Ausrufer wieder durch die Straßen ging, an sein Becken schlug und laut verkündigte: ›Heute Abend auf dem Schützenhof: Doktor Fausts Höllenfahrt, Puppenspiel in vier Aufzügen!‹ – da war es doch nicht länger auszuhalten. Wie die Katze um den süßen Brei, so schlich ich um meinen Vater herum, und [20]endlich hatte er meinen stummen Blick verstanden. – ›Pole‹, sagte er, ›es könnte dir ein Tropfen Blut vom Herzen gehen; vielleicht ist’s die beste Kur, dich einmal gründlich satt zu machen.‹ Damit langte er in die Westentasche und gab mir einen Doppelschilling.
Ich rannte sofort aus dem Hause; erst auf der Straße wurde es mir klar, dass ja noch acht lange Stunden bis zum Anfang der Komödie abzuleben waren. So lief ich denn hinter den Gärten auf den Bürgersteig. Als ich an den offenen Grasgarten des Schützenhofs gekommen war, zog es mich unwillkürlich hinein; vielleicht, dass gar einige Puppen dort oben aus den Fenstern guckten; denn die Bühne lag ja an der Rückseite des Hauses. Aber ich musste dann erst durch den oberen Teil des Gartens, der mit Linden- und Kastanienbäumen dicht bestanden war. Mir wurde etwas zagzumute; ich wagte doch nicht weiter vorzudringen. Plötzlich erhielt ich von einem großen hier angepflockten Ziegenbock einen Stoß in den Rücken, dass ich um zwanzig Schritte weiterflog. Das half! als ich mich umsah, stand ich schon unter den Bäumen.
Es war ein trüber Herbsttag; einzelne gelbe Blätter sanken schon zur Erde; über mir in der Luft schrieen ein paar Strandvögel, die ans Haffhinausflogen; kein Mensch war zu sehen noch zu hören. Langsam schritt ich durch das Unkraut, das auf den Steigenwucherte, bis ich einen schmalen Steinhof erreicht hatte, der den Garten von dem Hause trennte. – Richtig! dort von oben schauten zwei große Fenster in den Hof herab; aber hinter den kleinen in Blei gefassten Scheiben war es schwarz und leer, keine Puppe war zu sehen. Ich stand eine Weile, mir wurde ganz unheimlich in der mich rings umgebenden Stille.
[21]Da sah ich, wie unten die schwere Hoftür von innen eine Handbreit geöffnet wurde, und zugleich lugte auch ein schwarzes Köpfchen daraus hervor.
›Lisei!‹, rief ich.
Sie sah mich groß mit ihren dunklen Augen an. ›Bhüt Gott!‹, sagte sie; ›hab i doch nit gewusst, was da außa rumkraxlntät! Wo kommst denn du daher?‹
›Ich? – Ich geh spazieren, Lisei! – Aber sag mir, spielt ihr denn schon jetzt Komödie?‹
Sie schüttelte lachend den Kopf.
›Aber, was machst du denn hier?‹, fragte ich weiter, indem ich über den Steinhof zu ihr trat.
›I wart auf den Vater‹, sagte sie; ›er ist ins Quartier, um Band und Nagel zu holen; er macht’s halt firti für heunt Abend.‹
›Bist du denn ganz allein hier, Lisei?‹
– ›O nei; du bist ja aa noda!‹
›Ich meine‹, sagte ich, ›ob nicht deine Mutter oben auf dem Saal ist?‹
Nein, die Mutter saß in der Herberge und besserte die Puppenkleider aus; das Lisei war hier ganz allein.
›Hör‹, begann ich wieder, › du könntest mir einen Gefallen tun; es ist unter euern Puppen einer, der heißt Kasperl; den möcht ich gar zu gern einmal in der Nähe sehen.‹
›Den Wurstlmeinst?‹, sagte Lisei, und schien sich eine Weile zu bedenken. ›Nu, es ging’ scho; aber gschwind musst sein, eh denn der Vater wieder da ist!‹
Mit diesen Worten waren wir schon ins Haus getreten und liefen eilig die steile Wendeltreppe hinauf. – Es war fast dunkel in dem großen Saale; denn die Fenster, welche sämtlich nach dem Hofe hinaus lagen, waren von der [22]Bühne verdeckt; nur einzelne Lichtstreifen fielen durch die Spalten des Vorhangs.
›Komm!‹, sagte Lisei und hob seitwärts an der Wand die dort aus einem Teppich bestehende Verkleidung in die Höhe; wir schlüpften hindurch, und da stand ich in dem Wundertempel. – Aber, von der Rückseite betrachtet, und hier in der Tageshelle sah er ziemlich kläglich aus; ein Gerüst aus Latten und Brettern, worüber einige bunt bekleckste Leinwandstücke hingen: das war der Schauplatz, auf welchem das Leben der heiligen Genovefa so täuschend an mir vorübergegangen war. – Doch, ich hatte mich zu früh beklagt; dort, an einem Eisendrahte, der von einer Kulisse nach der Wand hinübergespannt war, sah ich zwei der wunderbaren Puppen schweben; aber sie hingen mit dem Rücken gegen mich, so dass ich sie nicht erkennen konnte.
›Wo sind die anderen, Lisei?‹, fragte ich; denn ich hätte gern die ganze Gesellschaft auf einmal mir besehen.
›Hier im Kastl‹, sagte Lisei und klopfte mit ihrer kleinen Faust auf eine im Winkel stehende Kiste; ›die zwei da sind scho zugricht; aber geh nur her dazu und schau’s dir a; er is schon dabei, dei Freund, der Kasperl!‹
Und wirklich, er war es selber. ›Spielt denn der heute Abend auch wieder mit?‹, fragte ich.
›Freili, der is allimaldabei!‹
Mit untergeschlagenen Armen stand ich und betrachtete meinen lieben lustigen Allerweltskerl. Da baumelte er, an sieben Schnüren aufgehenkt; sein Kopf war vorn übergesunken, dass seine großen Augen auf den Fußboden stierten, und ihm die rote Nase wie ein breiter Schnabel auf der Brust lag. ›Kasperle, Kasperle‹, sagte ich bei mir selber, ›wie hängst du da elendiglich!‹ Da antwortete es ebenso: ›Wart [23]nur, liebs Brüderl, wart nur bis heut Abend!‹ – War das auch nur so in meinen Gedanken oder hatte Kasperl selbst zu mir gesprochen? –
Ich sah mich um. Das Lisei war fort; sie war wohl vor die Haustür, um die Rückkehr ihres Vaters zu überwachen. Da hörte ich sie eben noch von dem Ausgang des Saales rufen: ›Dass d’ mir aber nit an die Puppen rührst!‹ – – Ja, – nun konnte ich es aber doch nicht lassen. Leise stieg ich auf eine neben mir stehende Bank und begann erst an der einen, dann an der anderen Schnur zu ziehen; die Kinnladen fingen an zu klappen, die Arme hoben sich, und jetzt fing auch der wunderbare Daumen an ruckweise hin und her zu schießen. Die Sache machte gar keine Schwierigkeit; ich hatte mir die Puppenspielerei doch kaum so leicht gedacht. – Aber die Arme bewegten sich nur nach vorn und hinten aus; und es war doch gewiss, dass Kasperle sie in dem neulichen Stück auch seitwärts ausgestreckt, ja dass er sie sogar über dem Kopfe zusammengeschlagen hatte! Ich zog an allen Drähten, ich versuchte mit der Hand die Arme abzubiegen; aber es wollte nicht gelingen. Auf einmal tat es einen leisen Krach im Innern der Figur. ›Halt!‹, dachte ich; ›Hand vom Brett! Da hättest du können Unheil anrichten!‹
Leise stieg ich wieder von meiner Bank herab, und zugleich hörte ich auch Lisei von außen in den Saal treten.
›Gschwind, gschwind!‹, rief sie und zog mich durch das Dunkel an die Wendeltreppe hinaus; ›’s is eigentli nit recht‹, fuhr sie fort, ›dass i di eilassnhab; aber, gell, du hast doch dei Gaudighabt!‹
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