– – Nach dem Mittagessen stand ich vor unserer Haustür und erwog unter Herzklopfen das Wagnis, schon heute zur ersten Vorstellung meinen Vater um das Eintrittsgeld anzugehen; ich war ja mit der Galeriezufrieden, und die sollte für uns Jungens nur einen Doppelschillingkosten. Da, bevor ich’s noch bei mir ins Reine gebracht hatte, kam das Lisei über die Straße zu mir hergeflogen. ›Der Vater schickt’s!‹, sagte sie, und eh ich mich’s versah, war sie wieder fort; aber in meiner Hand hielt ich eine rote Karte, darauf stand mit großen Buchstaben: Erster Platz.
Als ich aufblickte, winkte auch von drüben der kleine schwarze Mann mit beiden Armen aus der Bodenluke zu mir herüber. Ich nickte ihm zu; was mussten das für nette Leute sein, diese Puppenspieler! ›Also heute Abend‹, sagte ich zu mir selber; ›heute Abend, und – Erster Platz!‹
*
– – Du kennst unseren Schützenhofin der Süderstraße; auf der Haustür sah man damals noch einen schön gemalten Schützen, in Lebensgröße, mit Federhut und Büchse; im [15]Übrigen war aber der alte Kasten damals noch baufälliger, als er heute ist. Die Gesellschaft war bis auf drei Mitglieder herabgesunken; die vor Jahrhunderten von den alten Landesherzögen geschenkten silbernen Pokale, Pulverhörner und Ehrenkettenwaren nach und nach verschleudert; den großen Garten, der, wie du weißt, auf den Bürgersteig hinausläuft, hatte man zur Schaf- und Ziegengräsungverpachtet. Das alte zweistöckige Haus wurde von niemandem weder bewohnt noch gebraucht; windrissig und verfallen stand es da zwischen den munteren Nachbarhäusern; nur in dem öden weißgekalkten Saale, der fast das ganze obere Stockwerk einnahm, produzierten mitunter starke Männeroder durchreisende Taschenspielerihre Künste. Dann wurde unten die große Haustür mit dem gemalten Schützenbruder knarrend aufgeschlossen.
– – Langsam war es Abend geworden; und – – das Ende trug die Last, denn mein Vater wollte mich erst fünf Minuten vor dem angesetzten Glockenschlage laufen lassen; er meinte, eine Übung in der Geduld sei sehr vonnöten, damit ich im Theater stille sitze.
Endlich war ich an Ort und Stelle. Die große Tür stand offen, und allerlei Leute wanderten hinein; denn derzeitging man noch gern zu solchen Vergnügungen; nach Hamburg war eine weite Reise, und nur wenige hatten sich die kleinen Dinge zu Hause durch die dort zu schauenden Herrlichkeiten leid machen können. – Als ich die eichene Wendeltreppe hinaufgestiegen war, fand ich Liseis Mutter am Eingange des Saales an der Kasse sitzen. Ich näherte mich ihr ganz vertraulich und dachte, sie würde mich so recht als einen alten Bekannten begrüßen; aber sie saß stumm und starr, und nahm mir meine Karte ab, als wenn [16]ich nicht die geringste Beziehung zu ihrer Familie hätte. – Etwas gedemütigt trat ich in den Saal; der kommenden Dinge harrend, plauderte alles mit halber Stimmedurcheinander; dazu fiedelte unser Stadtmusikusmit drei seiner Gesellen. Das Erste, worauf meine Augen fielen, war in der Tiefe des Saales ein roter Vorhang oberhalb der Musikantenplätze. Die Malerei in der Mitte desselben stellte zwei lange Trompeten vor, die kreuzweise über einer goldenen Leierlagen; und, was mir damals sehr sonderbar erschien, an dem Mundstück einer jeden hing, wie mit dem leeren Auge darauf geschoben, hier eine finster, dort eine lachend ausgeprägte Maske. – Die drei vordersten Plätze waren schon besetzt; ich drängte mich in die vierte Bank, wo ich einen Schulkameraden bemerkt hatte, der dort neben seinen Eltern saß. Hinter uns bauten sich die Plätze schräg ansteigend in die Höhe, so dass der letzte, die sogenannte Galerie, welche nur zum Stehen war, sich fast mannshoch über dem Fußboden befinden mochte. Auch dort schien es wohlgefüllt zu sein; genau vermochte ich es nicht zu sehen, denn die wenigen Talglichter, welche in Blechlampettenan den beiden Seitenwänden brannten, verbreiteten nur eine schwache Helligkeit; auch dunkelte die schwere Balkendecke des Saales. Mein Nachbar wollte mir eine Schulgeschichte erzählen; ich begriff nicht, wie er an so etwas denken konnte, ich schaute nur auf den Vorhang, der von den Lampen des Podiumsund der Musikantenpulte feierlich beleuchtet war. Und jetzt ging ein Wehen über seine Fläche, die geheimnisvolle Welt hinter ihm begann sich schon zu regen; noch einen Augenblick, da erscholl das Läuten eines Glöckchens, und während unter den Zuschauern das summende Geplauder wie mit einem Schlage [17]verstummte, flog der Vorhang in die Höhe. – – Ein Blick auf die Bühne versetzte mich um tausend Jahre rückwärts. Ich sah in einen mittelalterlichen Burghof mit Turm und Zugbrücke; zwei kleine ellenlange Leute standen in der Mitte und redeten lebhaft miteinander. Der eine mit dem schwarzen Barte, dem silbernen Federhelm und dem goldgestickten Mantel über dem roten Unterkleide war der Pfalzgraf Siegfried; er wollte gegen die heidnischen Mohrenin den Krieg reiten, und befahl seinem jungen HausmeisterGolo, der in blauem silbergestickten Wamseneben ihm stand, zum Schutze der Pfalzgräfin Genovefa in der Burg zurückzubleiben. Der treulose Golo aber tat gewaltig wild, dass er seinen guten Herrn so allein in das grimme Schwerterspielsollte reiten lassen. Sie drehten bei diesen Wechselreden die Köpfe hin und her und fochtenheftig und ruckweise mit den Armen. – Da tönten kleine langgezogene Trompetentöne von draußen hinter der Zugbrücke, und zugleich kam auch die schöne Genovefa in himmelblauem Schleppkleidehinter dem Turm hervorgestürzt und schlug beide Arme über des Gemahls Schultern: ›O mein herzallerliebster Siegfried, wenn dich die grausamen Heiden nur nicht massakrieren!‹ Aber es half ihr nichts; noch einmal ertönten die Trompeten, und der Graf schritt steif und würdevoll über die Zugbrücke aus dem Hofe; man hörte deutlich draußen den Abzug des gewappnetenTrupps. Der böse Golo war jetzt Herr der Burg. –
Und nun spielte das Stück sich weiter, wie es in deinem Lesebuche gedruckt steht. – Ich war auf meiner Bank ganz wie verzaubert; diese seltsamen Bewegungen, diese feinen oder schnarrenden Puppenstimmchen, die denn doch wirklich aus ihrem Munde kamen, – es war ein [18]unheimliches Leben in diesen kleinen Figuren, das gleichwohl meine Augen wie magnetisch auf sich zog.
Im zweiten Aufzuge aber sollte es noch besser kommen. – Da war unter den Dienern auf der Burg einer im gelben Nankinganzug, der hieß Kasperl. Wenn dieser Bursche nicht lebendig war, so war noch niemals etwas lebendig gewesen; er machte die ungeheuersten Witze, so dass der ganze Saal vor Lachen bebte; in seiner Nase, die so groß wie eine Wurst war, musste er jedenfalls ein Gelenk haben; denn wenn er so sein dumm-pfiffiges Lachen herausschüttelte, so schlenkerte der Nasenzipfel hin und her, als wenn auch er sich vor Lustigkeit nicht zu lassen wüsste; dabei riss der Kerl seinen großen Mund auf und knackte, wie eine alte Eule, mit den Kinnbackenknochen. ›Pardauz!‹, schrie es; so kam er immer auf die Bühne gesprungen; dann stellte er sich hin und sprach erst bloß mit seinem großen Daumen; den konnte er so ausdrucksvoll hin und wider drehen, dass es ordentlich ging, wie ›Hier nix und da nix; kriegst du nix, so hast du nix!‹ Und dann sein Schielen; – das war so verführerisch, dass im Augenblick dem ganzen Publikum die Augen verquerim Kopfe standen. Ich war ganz vernarrt in den lieben Kerl!
Endlich war das Spiel zu Ende, und ich saß wieder zu Hause in unserer Wohnstube und verzehrte schweigend das Aufgebratene, das meine gute Mutter mir warm gestellt hatte. Mein Vater saß im Lehnstuhl und rauchte seine Abendpfeife. ›Nun, Junge‹, rief er, ›waren sie lebendig?‹
›Ich weiß nicht, Vater‹, sagte ich und arbeitete weiter in meiner Schüssel; mir war noch ganz verwirrt zu Sinne.
Er sah mir eine Weile mit seinem klugen Lächeln zu. ›Höre, Paul‹, sagte er dann, ›du darfst nicht zu oft in diesen [19]Puppenkasten; die Dinger könnten dir am Ende in die Schule nachlaufen.‹
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