Helmut Matthies - Mit Gott über Mauern springen

Und wie ist das mit den Hunderttausenden, die bereits an Gott glauben und genau deswegen in etwa 70 islamischen, hinduistischen, buddhistischen und kommunistischen Staaten inhaftiert sind – während wir in Deutschland in Freiheit leben können? Was denken diese Christen über den obigen Psalmvers? Würden sie nicht gern über die Gefängnismauern in die Freiheit springen! Würden sie nicht freudig ihren atheistischen Wärtern zurufen: „Gott existiert, denn er lässt mich sogar die Mauern eines Gefängnisses überwinden.”

Aber wir brauchen nicht in die Ferne schweifen: Wie oft mögen nicht in der DDR vor über 25 Jahren die Christen unter den 280.000 Gewissensgefangenen, die es gab, an dieses Bibelwort gedacht, ja Gott angefleht haben: „Bring mich über die Mauer! Beweise, dass dein Wort wahr ist!”. Und die bis zu 10.000 Kinder, die das SED-Regime ihren inhaftierten Eltern wegnahm und zwangsadoptierte. Bis heute wissen manche Eltern noch nicht, wo ihr Kind ist, und Kinder nicht, wer ihre leiblichen Eltern sind. Wie sehr sehnen sie sich danach, dass die Mauern des Schweigens oder der Falschinformation durchbrochen werden könnten. Und wie häufig mögen nicht die Christen unter den Tausenden Kindern und Jugendlichen in den sogenannten Jugendwerkhöfen der DDR geweint haben, weil sie dachten, Gott habe sie im Stich gelassen. Denn sie konnten bis Ende 1989 keine Mauer überwinden. Der größte Jugendwerkhof – in Torgau, den 4.000 Kinder durchleiden mussten – wurde kürzlich im ZDF sogar als Vernichtungslager bezeichnet: Es vernichtete die Seelen und manchmal auch die Körper vieler junger Menschen in der DDR.

Auch den kommunistischen Zensoren war die Macht unseres Bibelwortes bewusst. Alles, was gedruckt werden sollte, musste ja genehmigt werden – selbst die Tageslosungen der Herrnhuter Brüdergemeine. Und als dann für den 17. August 1987 das Bibelwort ausgelost worden war und natürlich auch veröffentlicht werden sollte: „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen”, fragte der Zensor, ein Professor für Ökumene an der Sektion Theologie der sozialistischen Humboldt-Universität: „Auch über die Berliner Mauer?” Der Stasi-Mitarbeiter regte sogar an zu überprüfen, welche Bibeltexte in Herrnhut noch ausgelost werden dürften. Doch 1987 ließ offensichtlich bereits Gorbatschows Glasnost die Genossen im Kulturministerium in Ostberlin etwas vorsichtiger entscheiden: Unser Bibelwort durfte gedruckt werden.

Es stammt aus dem 18. Psalm. Es ist ein Lied, das der größte König Israels am Ende seines Lebens gedichtet hat, sozusagen eine Bilanz. Und über dieser Quintessenz von rund 60 Lebens-jahren steht nicht als Erstes: „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen.” Denn das wäre auch nicht das Leben Davids gewesen. Er wurde zwar vom Schafhirten zum erfolgreichen Feldherrn und Staatsmann, aber er hatte auch große Niederlagen, schwere Sünden, den Tod zweier Kinder, die Flucht vor seinem eigenen Sohn und vieles andere zu verkraften. David rettete Menschen, aber er ließ auch Menschen töten. Er war ein Held und ein Mörder. Und bevor er dichten konnte: „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen”, steht in unserem Psalm:

Mir war angst und bange.

Ich war von Feinden umgeben.

Sie überwältigten mich.

Ich bin dem Tod ganz nahe gewesen.

Erst am Ende fasst er als Erfahrung eines Lebens mit Gott zusammen: „Mit ihm kann ich über Mauern springen” – Mauern der Einsamkeit, der Verzweiflung, ja der Todesangst.

Auch der große Widerstandskämpfer im Dritten Reich, Dietrich Bonhoeffer, hat das erfahren.

In einem seiner Briefe aus dem Gefängnis 1943 stellt er sich die Frage, ob er wohl der Folter der nationalsozialistischen Wärter standhalten könnte. Eine Frage, die Zehntausende Christen beschäftigt, die heute verfolgt werden. Und in diesem Brief aus der Haft schreibt Bonhoeffer genau unseren Vers aus Psalm 18, Vers 30 hinein. Nur eineinhalb Jahre später – am Tag vor seiner Hinrichtung im KZ Flossenbürg am 9. April 1945 – bat er, seinem Freund Folgendes mitzuteilen: „Sag ihm, das ist das Ende – für mich der Beginn des Lebens.” Ja, es ist wahr, wir werden die Wahrheit auch dieses Psalmwortes erfahren. Nicht immer dann, wenn wir es wollen. Aber immer dann, wenn Gott es für uns für richtig hält. „Dein Wille geschehe”, beten wir im Vaterunser, dem einzigen Gebet, von dem unser Herr gesagt hat: „DAS betet!”

Wir sehen an diesem Psalmwort, liebe Schwestern und Brüder, wie wichtig es ist, Verse aus der Heiligen Schrift stets im Zusammenhang zu lesen. Unseren Glauben macht eben beides aus: „Mir ist furchtbar angst und ich schreie zu Gott” und „Mit meinem Gott kann ich über Mauern springen!”.

Vermutlich lesen die meisten hier unter uns die Heilige Schrift, erfahren wir doch vor allem durch sie, was Gott für uns getan hat und was er von uns will. Aber ich weiß natürlich nicht, w i e Sie die Bibel lesen. Sie kennen vielleicht die Anekdote, die Christen charakterisiert, die einfach die Bibel aufschlagen, um durch das, was sie gerade lesen, Weisung zu empfangen. Da schlug einer die Bibel auf, und sein Blick fiel auf den Vers: „Und Judas stand auf und erhängte sich” (Matthäus 27,5). Der Christ war irritiert, machte einen zweiten Versuch. Da sprang ihm die Stelle ins Auge: „Gehe hin und tue desgleichen” (Lukas 10,37). Er wurde ganz unruhig, wagte aber dann doch einen dritten Versuch und las: „Was du tust, das tue bald” (Johannes 13,27).

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