Für Flöckchen und Anton
I
Die gelähmte Supermacht, oder:
Wie die Corona-Krise Trumps Kulturrevolution ausbremste
II
Nach der Kohle in West Virginia, oder:
Wie Künstler eine Bergbaustadt wiedererwecken
III
Zerrissenes Land, oder:
Warum Nancy und Dick nur selten über Politik diskutieren
IV
Basisdemokratie auf Amerikanisch, oder:
Irgendwo in Iowa
V
Verrottete Ernte, verfallene Preise, oder:
Warum Amerikas Farmer Trump trotz der Handelskriege die Treue halten
VI
Tabakanbau in Maryland, oder:
Die Krönungsfeier von Queen Nicotina
VII
Mit Colt und Bibel, oder:
Warum Evangelikale und Waffennarren Trump für einen Gottgesandten halten
VIII
Waffengewalt in den USA, oder:
Der Kampf der Mütter
IX
Weißer Glanz und schwarzes Elend, oder:
Eine Zeitreise durch den »Deep South« der USA
X
Amerikas Wälder, oder:
Ein Ausritt mit Becky
XI
Toter als tot?, oder:
Klimawandel im Death Valley
XII
Corona auf dem Land, oder:
Die Praxis von Karen Kinsell
XIII
Lieben lernen, oder:
Der 93-Jährige, der drei Treppenstufen auf einmal nimmt
I
Die gelähmte Supermacht, oder:
Wie die Corona-Krise Trumps Kulturrevolution ausbremste
SEBASTIAN HESSE-KASTEIN
Wir waren seit neun Monaten zurück in den Vereinigten Staaten, als die Corona-Krise begann. Wir waren mit dem festen Vorsatz angereist, aus unserem Aufenthalt möglichst einen einzigen ausschweifenden Roadtrip zu machen. Wir wollten uns dem veränderten Amerika auf die einzige Weise nähern, die dem unendlich weiten Sehnsuchtsland wirklich entspricht: on the road. Bald zwanzig Jahre war es her, dass wir das erste Mal in die USA gezogen waren. Damals, von 2000 bis 2005, für fünf Jahre. Damals hieß der Präsident George W. Bush. Diesmal heißt er Donald J. Trump. Und dem Hörensagen nach sollte das Land ein anderes sein als damals. Wir wollten es bis in die letzten Winkel abklappern, um diesen Veränderungen nachzuspüren. Doch neun Monate nach unserer Ankunft war das reichste, mächtigste und vitalste Land der Erde zum Stillstand gekommen. Und damit auch wir.
Während unserer ersten Korrespondentenzeit war das prägende Ereignis der Terror vom 11. September 2001. Dieses Mal sollte es die Corona-Krise sein. 9/11 und die Folgen hatten wir vor Ort in Washington DC, dem zweiten Anschlagsziel neben New York City, hautnah miterlebt. Und jetzt standen wir die Corona-Krise im Lockdown und unter »Stay-at-home«-Order in der Vorstadtidylle von Glen Echo, Maryland, durch. Wir waren in ein Amerika zurückgekehrt, in dem ein richtungsweisender Kulturkampf tobt. Wie bei jeder erbitterten Auseinandersetzung geht es auch hier um Vorherrschaft: um die Deutungshoheit darüber, was es heißt, amerikanisch zu sein. Und um die gesellschaftlichen und politischen Weichenstellungen, die die jeweilige Idee von Amerika materialisieren sollen. In diesem Kulturkampf ist die Figur des Donald Trump vor allem Posterboy der aufbegehrenden Partei. Wie eine Monstranz tragen sie ihn, die Ikone der Vernachlässigten, vor sich her. Daher dominiert Trump das öffentliche Erscheinungsbild. Er gestaltet die Tagespolitik. Vor allem aber ist er das Instrument, das Vehikel, eines lange ignorierten Amerika, das im Verborgenen ausharrte und jetzt mit dem Kulturkampf, den es angezettelt hat, den Aufstand probt. Die Gräben, die sich in dem zerrissenen Land schon vor Trump aufgetan hatten, hat dieser Präsident vertieft.
Der Corona-Lockdown hatte zunächst ein eigentümliches Wir-Gefühl hervorgebracht, zumindest für kurze Zeit. Ähnlich wie nach dem 9/11-Terror suchte Amerika Trost darin, zusammenzurücken. Urplötzlich saßen alle im selben Boot. Damals, weil der Angriff dem ganzen Land galt. Diesmal, weil auf einmal alle gleich verletzlich schienen. Nach dem 11. September hatte George W. Bush seine größte Stärke ausgespielt, seine Fähigkeit zu Empathie und Mitgefühl, und Amerika für eine Weile geeint. Wer weiß, wie die Geschichte über Bush urteilen würde, wenn er nicht seinen neokonservativen Einflüsterern nachgegeben und mit fadenscheiniger Begründung einen Krieg angezettelt hätte. Donald J. Trump sah durch die Corona-Krise zunächst einmal seine Wiederwahl bedroht. Und lief erst wieder zu Hochform auf, als er das Potenzial im Krisenmanagement erkannte, eine neue Rolle für sich selbst zu kreieren: die des Kriegspräsidenten, der den Angriff eines unsichtbaren Feindes abwehrt. Anfang Juli, ausgerechnet als der Präsident mit aller Macht zur Vor-Corona-Normalität zurückkehren wollte, schnellten die Fälle vielerorts dramatisch in die Höhe. Statt seinen Lockerungskurs zu überdenken, heizte Trump umgehend einen weiteren Konflikt an. Der Kriegspräsident wurde zum »Law and Order«-Präsidenten, der mit harter Hand gegen gewalttätige Demonstranten und Bilderstürmer vorgeht. Nach dem Tod von George Floyd eskalierten mancherorts die Demonstrationen gegen Rassismus und Polizeigewalt. Und der militantere Teil der »Black Lives Matter«-Bewegung begann, Denkmäler und Standbilder historischer Persönlichkeiten zu stürzen. Statt Mitgefühl mit Opfern zu zeigen, machte Trump alle Protestierenden zu Tätern. Neben dem »unsichtbaren Feind« gab es stets auch eine immer länger werdende List an sichtbaren Gegnern: »Black Lives Matter«, die Chinesen (Trump nennt Covid-19 gerne »Kung Flu«), die Medien, die Demokraten … Die erste Jahrhundertkrise (9/11) brachte die Stärken des damaligen Präsidenten zum Vorschein. Die zweite Jahrhundertkrise (Corona) offenbarte die Schwächen des späteren Präsidenten. Trump, der Spalter, funktioniert nur in einem zerrissenen Amerika. Und das ist nach seiner Logik nur dann GREAT, wenn ausreichend Konflikte schwelen, aus denen er als strahlender Sieger hervorgehen kann. Unmittelbar nach Ausbruch der Corona-Krise haben Julia und ich um das Zustandekommen dieses Buches gebangt. Wir dachten, unter den Bedingungen des Lockdowns könne man es nicht beenden. Doch dann wurde uns allmählich klar, dass die Ausnahmesituation wie unter einem Brennglas all das schärfer und konturierter vor Augen führen würde, was wir ohnehin als Gradmesser für Amerikas »greatness« anlegen wollten.
Wie so viele amerikanische Familien vertrieben wir uns die Zeit mit »binge watching«, dem exzessiven Konsum leichtverdaulicher TV-Kost. Netflix verzeichnete Rekord-Klickzahlen für den visionären Pandemie-Thriller »Contagion« aus dem Jahre 2011. Das ans Haus gefesselte Amerika staunte, wie präzise Regisseur Steven Soderbergh vorausgesehen hatte, was in Amerika passiert, wenn ein unbekanntes Virus aus China eingeschleppt wird. Den größten Suchtfaktor hatte dann aber eine neuartige Reality-TV-Serie. Wie alle Amerikaner klebten auch wir allabendlich am Fernsehschirm, wenn die POTUS-Show lief. POTUS – das ist die in den USA gebräuchliche Abkürzung für »President of the United States«. Mit dem Lockdown war auch zum Stillstand gekommen, was für ihn am meisten Stimulanz und Lebenselixier mit sich bringt, wobei er sich Rückhalt holt und als Entertainer zu Höchstform aufläuft: seine unnachahmlichen Wahlkampfveranstaltungen! Im Amerikanischen sagt man »Rallies«. Eine politische Rally hat nichts mit Autorennen zu tun. Gemeint ist eher ein politischer Wanderzirkus. Die Trump-Show, immer on the road. Diese großinszenierten Rallies dienen weniger dem Stimmenfang. Sie bieten dem Selbstdarsteller Trump die Bühne, die er braucht, um sich ganz ungeniert auszuleben. Volle Breitseite gegen seine Gegner feuern. Eimerweise Eigenlob über sich selbst auskübeln. Und von Zehntausenden im unmittelbaren Kontakt gefeiert werden. In seinem Vorleben als Kasino-Betreiber hatte Trump Box- und Wrestling-Spektakel für johlende Fans inszeniert. Die Trump-Rallies waren die Polit-Variante davon. Amphetamin für den Narzissten, das ihm durch die unerwartete Zwangspause entzogen worden war. Nach den ersten live übertragenen Pressekonferenzen mit seiner Corona-Task-Force dämmerte Trump jedoch, wie er die entstandene Lücke füllen könnte.
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