Strukturelle Merkmale der reifen Persönlichkeit sind eine hinreichende Ichstärke, ein integriertes Selbst, integrierte Objekt- und Beziehungsrepräsentanzen und eine gut entwickelte Identität mit dem Gefühl der Kohäsion des Selbst.
Aber auch reife Persönlichkeiten haben natürlich ihre Eigenarten. Diese prägen die Individualität und machen Menschen erst voneinander unterscheidbar. Dabei sind Persönlichkeitszüge und Grundeinstellungen gegenüber dem Leben und anderen Menschen das Ergebnis vielfältiger Einflüsse. Hier spielen Anlagefaktoren eine besondere Rolle.
Doch erst die Überformung des ererbten Temperaments durch die Erziehung und andere Erfahrungen macht die spätere Persönlichkeit aus. Die überdauernden Eigenschaften eines Menschen, d. h. seine Persönlichkeit, sind letztlich Spuren seiner Entwicklung, die sich mit ihren Krisen und Konflikten in seine Konstitution eingegraben haben. Es sind dieselben Krisen und Konflikte, die auch die Entwicklung neurotischer Menschen prägen, und es sind dieselben Prozesse, z. B. Spaltung und Verdrängung, mit denen sie bewältigt werden.
Der Unterschied besteht darin, dass Menschen mit reifen Persönlichkeiten bessere Bedingungen und Hilfen bei der Bewältigung dieser Krisen und Konflikte gehabt haben, sodass diese keine Wunden und viel geringere Spuren in der Persönlichkeit hinterlassen haben.
Auch reife Persönlichkeiten wehren ab und tragen in ihrem Unbewussten verdrängte Erfahrungen und Konflikte mit sich. So ist der Unterschied zwischen neurotischer Persönlichkeit und nicht-neurotischer reifer Persönlichkeit kein grundsätzlicher, sondern ein gradueller.
Man kann daher auch für reife Persönlichkeiten eine Typologie begründen, die sich an den Typen der neurotischen Persönlichkeiten (
Kap. 3.2.3) orientiert. So kann man bei einem gesunden, durchaus kreativen Menschen z. B. eine hysterisch oder zwanghaft akzentuierte Persönlichkeit konstatieren. Der Gesunde ist aber in seiner Stabilität nicht gefährdet, selbst wenn er Erfahrungen macht, in denen sich seine frühen persönlichkeitsprägenden Erfahrungen wiederholen. Er ist auch nicht auf einige wenige konflikthafte Erfahrungen fixiert und verfügt über ein breites Spektrum flexibel einsetzbarer Bewältigungs- und Abwehrmechanismen. Diese erlauben es ihm, selbst schwierige Situationen ohne seelische Einbrüche zu meistern.
Allerdings hat auch die Belastbarkeit einer reifen Persönlichkeit ihre Grenzen. Chronische Belastungen, akute Krisen und insbesondere schwerwiegende Traumatisierungen können auch von Gesunden nicht unbegrenzt verarbeitet werden. Es kommt daher auch bei Gesunden zu seelischen und körperlichen Reaktionen, wenn ihre Belastbarkeit überschritten wird. Diese reaktiven und im Extremfall auch posttraumatischen Störungen können wie neurotische Störungen mit seelischen und körperlichen Symptomen aussehen (
Kap. 6 und
Kap. 7). Es fehlt bei ihnen aber die neurotische Disposition in Form von Entwicklungsdefiziten und ungelösten unbewussten Kindheitskonflikten, die für neurotische Störungen maßgeblich sind. Neurotische Merkmale können allerdings die Bewältigung von Belastungen und Traumatisierungen behindern und dadurch den Krankheitsverlauf entscheidend beeinflussen.
Zur Vertiefung empfohlene Literatur
Entwicklungsdiagnostik, Strukturniveau allgemein: Fonagy P u. Target M (2003), Rudolf G (2004)
Niederes Strukturniveau: Blanck G u. Blanck R (1974), Kernberg O (1975, 2000b), Rohde-Dachser C (1979), Rudolf G (2004)
Mittleres Strukturniveau: Kernberg O (1975), Kohut H (1971), Altmeyer M (2000)
Höheres Strukturniveau: Freud S (1915, 1923, 1926), Loch W (1971), Mentzos S (1982, 2009)
112 Kernberg (1970, 1976, 2000a)
113 Freud A (1974)
114 In der 6. Auflage wurde stattdessen von einer depressiv-narzisstischen Persönlichkeitsorganisation gesprochen. Diese Bezeichnung führte zu Mißverständnissen wegen der Nähe zu den Bezeichnungen der klinischen Syndrome und wurde deshalb fallen gelassen.
115 Fürstenau (1977)
116 Sachsse (1995)
117 Portmann (1944)
118 Kernberg (1975)
119 Balint (1968)
120 Kernberg (1975)
121 in Anlehnung an Balints Konzept der Grundstörung
122 Schur (1955)
123 Rhode-Dachser (1990)
124 Kohut (1971)
125 Frosch (1964), s. Rohde-Dachser (1979)
126 Kernberg (1975)
127 Blanck u. Blanck (1974, 1979)
128 Kernberg (2000a, 2000b)
129 Antinomie verweist auf die Widersprüchlichkeit, die dieser Entwicklungsposition innewohnt.
130 Vergleichbar dem Individuationsstadium und dem Ödipuskomplex als den beiden anderen zentralen Entwicklungspositionen
131 Lacan (1973), Winnicott (1967)
132 Kohut (1977)
133 Kohut (1971)
134 Mahler (1968)
135 Vgl. auch Kap. 9.2.2
136 Schultz-Hencke (1940, 1951)
137 Freud (1926)
138 Im Gegensatz zur Spaltungsabwehr beim niederen Strukturniveau,
Kap. 4.2
139 Vgl. Konfliktverarbeitung,
Kap. 3
140 Schon (2000)
141 Abelin (1986)
5.1 Psychosomatische Diagnostik im Vorfeld der Fachpsychotherapie
5.1.1 Die Untersuchung von Patienten mit psychogenen Störungen
5.1.2 Das Untersuchungsgespräch
5.1.3 Die Überweisung zur Fachdiagnostik
5.2 Psychotherapeutische Fachdiagnostik
5.2.1 Das psychodiagnostische Interview
5.2.2 Die Methode des psychodiagnostischen Interviews
5.2.3 Die Auswertung des psychodiagnostischen Interviews
5.3 Psychotherapeutische Diagnosen
5.3.1 Syndromdiagnosen
5.3.2 Psychodynamische Diagnosen
5.3.3 Vollständige psychodynamische Diagnosen
5.3.4 Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik
Die Diagnostik psychogener Störungen ist von besonderer Wichtigkeit, weil diese Erkrankungen trotz zunehmender Beachtung immer noch zu selten und zu spät richtig erkannt werden. Zu ihrer Diagnostik gehört auch die Behandlungsplanung und die Motivierung zur psychotherapeutischen Behandlung. Die Aufgaben der allgemeinen psychosomatischen Diagnostik liegen vorrangig in der Hand der Hausärzte, während sich Psychotherapeuten auf die Fachdiagnostik, Differenzialindikation und die Vorbereitung zur Behandlung konzentrieren.
Zur Geschichte der psychotherapeutischen Diagnostik
Die psychotherapeutische Diagnostik galt über lange Zeit als eine Kunst, für die es keine festen Regeln gab. Besonders die Psychoanalyse wehrte sich dagegen, überhaupt Diagnosen zu stellen. Es reichte für die psychoanalytische Behandlung aus, die Persönlichkeit der Patienten zu ergründen und aus den Erkenntnissen über verdrängte Konflikte und unbewusste Phantasien einen Ansatz für die Einflussnahme auf die Persönlichkeit und für deren Veränderung zu entwickeln. Die notwendigen biografischen Daten und andere wichtige Informationen wurden im Verlauf der Behandlung gesammelt. Gegenüber einem medizinisch-diagnostischen Ansatz bestand erhebliche Skepsis.
Erst nach und nach entwickelte sich unter dem Einfluss einer zunehmenden Institutionalisierung und Medizinalisierung eine psychotherapeutische Fachdiagnostik (
Kap. 5.2.2), welche Regeln für die Befunderfassung sowie für die Indikations- und Prognosestellung aufstellte. Soweit sie auf Konzepte der Psychoanalyse bezogen war, blieb dabei die Erfassung des psychodynamischen Hintergrundes, vornehmlich die Verarbeitung und die Folgen unbewusster Konflikte und ihre Einbettung in den psychosozialen Kontext, das Zentrum der Untersuchungen. Die Systematisierung von klinischen Syndromen und ihre Klassifikation fanden nur am Rande Aufmerksamkeit.
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