Die Verdrängungsabwehr 138
Der typische Modus der Konfliktverarbeitung auf höherem Strukturniveau ist die Verdrängungsabwehr. Dabei kommen neben der eigentlichen Verdrängung auch andere Abwehrmechanismen zum Tragen, die dazu führen, dass bewusstes Erleben in unbewusste Vorstellungen transformiert wird und unbewusst bleibt. Dazu gehören z. B. die Verschiebung, die Reaktionsbildung und die verschiedenen Formen von Gefühlsverdrängung (
Kap. 2.1.2). Die Verdrängungsabwehr setzt stabile Selbst- und Objektrepräsentanzen voraus, die parallel mit der Sprachentwicklung und dem explizit-deklarativen Gedächtnismodus entstehen. Dieser Modus wird mit zweieinhalb Jahren etabliert, wenn das höhere Strukturniveau sich zu etablieren beginnt.
4.4.3 Auslösesituationen und Symptomentstehung
Wenn durch psychosoziale Konflikte und Belastungen im aktuellen Leben verdrängte Konfliktthemen berührt werden, wird die Verdrängungsabwehr geschwächt. Geschehnisse, welche die verdrängten Konflikte wiederbeleben, können deshalb zur psychosozialen Auslösesituation für die Manifestation neurotischer Symptome werden. Auslösend wirken Versuchungen und Versagungen, die das gleiche Muster haben wie die verdrängten ungelösten Konflikte der früheren Entwicklung. Man kann für das höhere Strukturniveau deshalb von einer Wiederholung und Aktualisierung verdrängter Konflikte und insofern von einer individuellen Spezifität der Auslösesituation sprechen.
Für die Auslösesituation ist es kennzeichnend, dass die verdrängte Bedeutung des auslösenden Ereignisses, d. h. die unbewusste Versagung, die darin steckt, und das Aufbegehren dagegen, den Betroffenen nicht bewusst sind. Sie erkennen nicht, dass der äußere aktuelle Konflikt eine Wiederholung eines verinnerlichten, unbewusst gewordenen Konfliktes darstellt. Diese Wahrnehmung unterliegt der Abwehr. Bisweilen wird aber auch die gesamte Erinnerung an die aktuelle Auslösesituation verdrängt.
Die Symptomentstehung selbst ist dabei als eine Art Hilfsabwehr zu verstehen (
Übersicht). Sie hat den Sinn, das abgewehrte Erleben – Konflikt und begleitende Angst – von der bewussten Wahrnehmung fernzuhalten. So kann z. B. anstelle des unterdrückten Impulses, jemanden zu schlagen, durch Konversion eine Armlähmung auftreten. Durch Affektisolierung kann auch an die Stelle des Impulses eine Zwangshandlung oder durch Reaktionsbildung ein quälender Kontrollzwang oder durch Verschiebung und Verkehrung eine Phobie treten. Mit der Symptomentstehung wird der dahinterstehende aktuelle Impuls, Affekt oder Konflikt verdrängt.
Klinische Manifestationen der neurotischen Persönlichkeitsorganisation
• Psychische Störungen
– Zwangsstörungen bei zwanghafter (oder hysterischer) Persönlichkeit (
Kap. 9.4)
– Dissoziative Störungen bei hysterischer Persönlichkeit (
Kap. 9.5)
– Angststörungen und Phobien bei hysterischer Persönlichkeit (
Kap. 9.3.2)
– Depressive Störungen bei zwanghafter Persönlichkeit (
Kap. 9.2)
• Somatoforme Störungen
– Vornehmlich: »Klassische Konversionsneurosen« (
Kap. 10.2)
• Persönlichkeitsstörungen
– Hysterische Persönlichkeitsstörungen (
Kap. 8.2)
– Zwangsneurotische Persönlichkeitsstörungen (
Kap. 9.4)
Die Symptombildung ist das Ergebnis einer nicht optimalen Konfliktlösung 139(
Kap. 2.1.2), wenn eine Lösung im Außen oder eine optimale Lösung durch intrapsychische Veränderung nicht gefunden werden kann. Die übliche Verdrängung ist ausgeschlossen, weil die Kapazität der Abwehr durch das Zusammentreffen gleichartiger verdrängter und aktueller Konflikte ausgeschöpft ist. Deshalb wird ein anderer, allerdings ein ungünstiger Weg der Konfliktlösung gewählt: die »autoplastische« Anpassung unter Einbuße des Wohlbefindens, d. h. durch Bildung von Symptomen. Es handelt sich bei den klassischen neurotischen Symptomen also um eine Konfliktlösung mit einem nicht optimalen Ergebnis: Zwar kann das psychische Gleichgewicht gewahrt und die Verdrängung aufrechterhalten werden – der Preis aber ist die Beeinträchtigung des Wohlbefindens.
Präödipale und ödipale Störungen
Neurotische Störungen auf höherem Strukturniveau haben ihre Wurzel zumeist in der ödipalen Entwicklung. Aber auch Triangulierungskonflikte, die sich aus dem Übergang vom Autonomie- zum Ödipuskomplex herleiten, können durch regressive Prozesse in die Dynamik des höheren Strukturniveaus mit einbezogen werden. Demnach ist eine strikte Abgrenzung zwischen präödipalen und ödipalen Störungen bzw. zwischen dem höheren und dem mittleren Strukturniveau (
Tab. 4.6) bisweilen schwierig oder willkürlich.
• Präödipale Störungen beruhen auf Triangulierungskonflikten (
Kap. 2.3.4), die aus Loslösungsaggressionen gegenüber der zentralen Bezugsperson (Mutter) und der Hinwendung zu einem dritten Objekt (Vater) entstehen. 140Die Triangulierungsprozesse prägen den Autonomiekomplex, der diese Entwicklung begleitet. 141Seine Themen sind Loslösung und Wiederbindung, Expansion und Selbstbehauptung. Sie entstammen der oral-aggressiven, analen und phallischen Triebentwicklung und sind mit Strebungen nach Geltung und Bewunderung verbunden. Sie werden von Schuldgefühlen und Angst vor Liebesverlust begleitet.
• Ödipale Störungen beruhen auf sinnlich-libidinösen Konflikten der phallisch-narzisstischen Entwicklung und auf Fixierungen der hoch ambivalenten Beziehungsdynamik im Ödipuskomplex (
Kap. 2.3.5). Daneben spielen auch hier phallisch-narzisstische Geltungs- und Rivalitätskonflikte eine Rolle. Die zentrale Angst ist die Gewissensangst oder, wie Freud es provokativ nannte, die Kastrationsangst.
Tab. 4.6: Abgrenzung zwischen präödipalen und ödipalen Störungen
4.5 Anmerkungen zur reifen Persönlichkeitsorganisation
Die Persönlichkeit auf reifem Strukturniveau zeichnet sich durch die Fähigkeit zum Wohlbefinden und zum befriedigenden Leben mit anderen aus. Sie ist den Anforderungen des Lebens und den üblichen Belastungen, die der Alltag mit sich bringt, gewachsen. Menschen mit einer reifen Persönlichkeit sind also nicht dazu disponiert, unter Belastungen eine neurotische Störung zu entwickeln.
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