Hubert Mingarelli - Ein Wintermahl (eBook)

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"Einer mehr, einer weniger, was macht das schon für einen Unterschied?"
Noch vor der Tagwache begeben sich drei Wehrmachtssoldaten auf den Weg, um in der verschneiten Umgebung versteckte Juden zu finden. Für sie eine Möglichkeit, den täglichen Erschießungen im Lager zu entgehen. Nachdem sie einen jungen Mann gefangen genommen haben, suchen sie auf dem Rückweg in einem verlassenen Haus Schutz vor dem Hunger und der quälenden Kälte, die all ihr Denken überlagern. Während sie darauf warten, dass das Feuer im Ofen brennt und die Suppe kocht, treten ihre persönlichen Bedürfnisse und Sorgen allmählich in den Hintergrund; und das unfassbare Grauen, in dem sie stecken, bekommt ein neues Gewicht. – Auf kleinem Raum erzählt Hubert Mingarelli von zweifelhaften Gnadenakten, undenkbarer Schuld und der Banalität des Bösen, schlicht und eindringlich.
Eine bewegende Geschichte über die Grundwerte des menschlichen Handelns und die erschreckend simple Logik der Pflichterfüllung in dunklen Zeiten.

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Ein Wintermahl eBook - изображение 1

Hubert Mingarelli

EIN

WINTER

MAHL

ROMAN

Aus dem Französischen von Elmar Tannert

ars vivendi

Die Originalausgabe erschien erstmals 2012 unter dem Titel

Un repas en hiver bei Éditions Stock.

© Éditions Stock

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Deutschen Originalausgabe

© 2020 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

Lektorat: Eva Wagner

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

ISBN 978-3-7472-0179-4

Inhalt

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Der Autor, Der Übersetzer

1

Draußen klirrte das Eisen. Der Ton klang im Hof einen Moment nach, im Kopf noch länger. Er würde nicht noch einmal erklingen. Wir mussten sofort aufstehen. Leutnant Graaf hatte es nie nötig, zweimal auf das Eisen zu schlagen. Ein schwaches Licht drang durch das vereiste Fenster. Emmerich lag schlafend auf der Seite, Bauer weckte ihn. Es war später Nachmittag, aber Emmerich glaubte, es sei Morgen. Er richtete sich auf, betrachtete seine Stiefel und schien nicht zu begreifen, warum er die ganze Nacht in ihnen geschlafen hatte.

Währenddessen hatten Bauer und ich unsere Stiefel bereits angezogen. Emmerich stand auf und ging zum Fenster, aber da man wegen des Eises nicht hindurchsehen konnte, hielt seine Verwirrung weiterhin an. Bauer brachte ihm bei, dass Nachmittag war und dass Graaf uns gerufen hatte.

»Was ist denn schon wieder?«, maulte Emmerich. »Wozu denn? Dass wir draußen in der Kälte verrecken?«

»Mach schon«, sagte ich.

»So siehst du aus«, gab Emmerich zurück. »Ich soll mich beeilen, bloß um aufrecht stehend zu erfrieren?«

Wir dachten alle wie er. Die ganze Kompanie dachte so. Warum hielt es Leutnant Graaf für nötig, uns draußen antreten zu lassen? Was er uns zu sagen hatte, hätten wir uns ebenso gut im Warmen anhören können, vor unseren Feldbetten stehend. Es war ihm wohl nicht feierlich genug, in der Turnhalle das Wort an uns zu richten. Nein, er musste eine Eisenplatte an einem Telefonmast aufhängen lassen! Den Lärm, den sie machte, wenn er daraufschlug, diesen unheilverkündenden Ton hassten wir noch mehr als die Kälte, die uns draußen erwartete. Wir hatten keine Wahl, einem direkten Befehl mussten wir gehorchen. Aber es bedurfte dennoch eines gewissen Mutes, um bei einem solchen Wetter nach draußen zu gehen.

Wir hatten unsere Mäntel angezogen, hatten uns die Schals mehrfach umgewickelt, im Nacken verknotet und die Sturmhauben aufgesetzt. Wir hatten alles bedeckt, bis auf die Augen, und traten im Hof der Turnhalle an. Bauer, Emmerich und ich waren die Letzten.

Die Kälte war für uns nichts Neues mehr, wir wussten, was uns erwartete, und doch überraschte sie uns jedes Mal wieder. Es fühlte sich an, als dringe sie durch die Augen ein und breite sich überall aus, wie eiskaltes Wasser, das durch zwei Löcher läuft. Die anderen standen bereits in Reih und Glied, bibbernd vor Kälte. Während wir unsere Plätze aufsuchten, zischten sie uns zu, was für Arschlöcher wir seien, die Kompanie so lang warten zu lassen. Wir reihten uns schweigend ein, und als jeder damit aufgehört hatte, von einem Fuß auf den anderen zu treten, um sich aufzuwärmen, sagte uns Leutnant Graaf, dass heute welche kommen würden, aber wahrscheinlich spät, sodass die Arbeit für den nächsten Tag vorgesehen wäre und dass sie diesmal an unsere Kompanie fallen würde.

Graaf konnte nicht wissen, wie seine Mitteilung auf uns wirkte. Er konnte nicht sehen, ob wir einander hinter unseren Vermummungen etwas zuraunten. Er sah lediglich unsere Augen.

Er hatte uns nicht gesagt, wie viele von ihnen kommen würden. Er wusste zwar, dass das für uns überaus wichtig war. Jedoch musste er fürchten, dass, wenn es sehr viele wären, sich schon ab heute Abend einige von uns krankmelden würden.

Er gab uns das Zeichen zum Wegtreten, wandte sich um und ging auf das Haus zu, in dem die Offiziere untergebracht waren.

Wir hätten jetzt die Reihen auflösen und in die Wärme zurückkehren können, aber wir taten es nicht. Wir blieben an Ort und Stelle. Wir hätten viel darum gegeben, in die Wärme zurückkehren zu können, und dennoch harrten wir aus. Vielleicht lag es an der Arbeit, die uns morgen erwartete. Oder daran, dass wir ohnehin schon bis ins Mark gefroren waren, sodass ein paar Minuten mehr oder weniger keinen Unterschied mehr machten.

Diejenigen, die sich heute um den Ofen kümmern mussten, nutzten die Gelegenheit und machten sich daran, die Kübel zu füllen. Bauer und ich sahen zum Offiziershaus hinüber, weil es den Eindruck machte, als gäbe es darin eine Badewanne – worüber wir gesprochen hatten, ehe das Eisen erklungen war. Ich hatte ihm gesagt, dass ich damals gespart hatte, um mir eine Badewanne leisten zu können. Wir verwendeten dieses Wort oft: damals. Wir sagten es meist im Scherz, manchmal ernst gemeint. Emmerich trat zu uns. Er versuchte, seine Verwirrung vor uns zu verbergen. Vom Schlaf hatte er dunkle Schatten unter den Augen.

Endlich kehrten wir zurück und setzten uns auf Bauers Feldbett. Wir sprachen auch hier nicht von der Arbeit, die uns morgen erwartete. Aber dadurch, dass wir nicht davon sprachen, fühlten wir uns umso mehr von ihr bedrängt.

2

Am Abend verlangten wir unseren Kommandanten zu sprechen. Wer weiß, ob Graaf uns die Erlaubnis dazu gegeben hätte. Aber er war aufgebrochen in die Stadt, wo er jemanden kannte. Umso besser, so gelang es uns, ihn zu umgehen. Der Kommandant hörte uns zu, ohne uns anzusehen, während sich seine Hände unruhig in den Taschen bewegten, als würde er nach etwas suchen. Er war ein wenig älter als wir. Im Zivilleben betrieb er einen Großhandel für Stoffe, was wir uns nur schwer vorstellen konnten. Für uns war er seit eh und je der Kommandant von etwas.

Was wir ihm sagten, wusste er bereits. Er warf ab und zu einen Blick zur Tür und nickte dann wieder heftig mit dem Kopf. Nicht weil er in Eile gewesen wäre, sondern weil er uns verstand. Natürlich übertrieben wir ein wenig. Man musste hier viel verlangen, um etwas zu erreichen. Falls wir etwa morgen der Ansicht wären, dass der Koch ein wenig geizte mit seinen Portionen, so müssten wir ihm sagen, dass wir vor Hunger sterben, um daran etwas zu ändern.

An jenem Abend gab es andere Dinge zu besprechen, wichtige Dinge, und der Kommandant verstand uns und nickte manchmal. Wir erklärten ihm, dass uns das Jagen lieber wäre, als Erschießungen vorzunehmen, dass wir die Erschießungen wahrhaftig nicht mögen würden, dass sie uns deprimierten und dass wir nachts von ihnen träumten. Am Morgen verfielen wir in Trübsal, sobald wir daran dächten, und würden sie schließlich überhaupt nicht mehr ertragen, und alles in allem, wenn wir erst einmal ernsthaft krank wären, würden wir zu nichts mehr zu gebrauchen sein. Wir sprachen ohne Scheu mit ihm. Mit einem anderen Kommandanten hätten wir nicht so freimütig und offen geredet. Er war Reservist wie wir und schlief ebenfalls auf einem Feldbett. Aber die Massenblutbäder hatten ihn stärker altern lassen als die anderen. Er war abgemagert und wirkte manchmal so ratlos, dass wir befürchteten, er könnte vor uns krank werden und ein anderer, weniger verständnisvoller Kommandant an seine Stelle treten. Möglicherweise sogar aus dem näheren Umfeld. Graaf zum Beispiel, unser Leutnant, der nicht auf einem Feldbett schlief. Mit sich selbst ging er rücksichtsvoll um, aber nicht mit uns. Mit ihm gäbe es weniger Kohlen und noch mehr Appelle. Ein fortwährendes Heraustreten und Wiederwegtreten, das würde uns mit Graaf erwarten. Allein beim Gedanken daran hörten wir die Eisenplatte, deren Klang uns von früh bis spät begleiten würde. Es musste nicht ausgesprochen werden, wir mochten unseren Kommandanten, mitsamt seiner Ratlosigkeit.

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