Wir schraken auf, Emmerich und ich. Selbst durch den Schal klang es noch wie ein Gewehrschuss. Oder wie der Schrei eines wilden Tieres.
Unsere Arbeit hier hatte Bauers Stimme verändert. Sie konnte urplötzlich überschnappen. Was er sagte, war dabei fast unwichtig. Aus dem banalsten Anlass konnte er losschreien. Emmerich und ich hatten aufgehört, uns deshalb zu sorgen, und machten ihm auch keine Vorwürfe mehr. Aber dass wir es wussten, schützte uns nicht davor, jedes Mal aufzuschrecken, wenn es so weit war.
Emmerich wandte sich ein Stück zu uns um und antwortete mit einem Vibrieren in der Stimme: »Wenn er geraucht hat und mir ein Unglück zustößt, ist sein Leben ruiniert.«
»Er hat recht«, sagte ich zu Bauer.
Bauer machte einen großen Schritt voran, fasste Emmerich an der Schulter und sagte, diesmal mit seiner wahren Stimme, ruhig und besonnen: »Dir müsste erst einmal ein Unglück zustoßen. Was riskieren wir hier schon?«
»Hier vielleicht nichts«, antwortete Emmerich. »Im Moment ist alles in Ordnung. Aber wir riskieren, dass wir woandershin geschickt werden.«
»Kann schon sein. Aber morgen nicht«, sagte Bauer. »Und hier, was sollte dir hier für ein Unglück zustoßen?«
Emmerich verlangsamte seinen Schritt, um an unserer Seite zu gehen, und sagte zu Bauer: »Kann man nie wissen. Außerdem braucht es ja nur ein blöder Zufall sein: Er raucht, und mir passiert ein Unglück, einfach so. Was wird dann mit ihm? Ich will nicht, dass sein Leben wegen so einem Zufall ruiniert ist.«
»Er hat ganz recht«, sagte ich.
Bauer murmelte etwas in seinen Schal hinein.
Emmerich sagte: »Ich kann ihm nicht mit so was drohen. Da ist es doch noch besser, wenn er raucht.«
Bauer hob seinen Schal an und sagte zu Emmerich: »Gib ihm doch gleich deine Ration.«
Er meinte die Zigaretten. Ich hörte Emmerich leise lachen. Nicht sonderlich fröhlich, aber immerhin. Von da an gingen wir wieder schweigend, jeder für sich. Aber Emmerichs Sohn begleitete uns weiterhin. Bauer und ich hatten keine Ahnung, wie er aussah. Emmerich besaß kein Foto von ihm, und wir hatten noch nie gewagt, ihn zu fragen, warum. Vielleicht stand irgendein Aberglaube dahinter.
Während wir geredet hatten, hatte sich der Tag immer weiter entfaltet. Das graue Licht, das er jetzt spendete, würde uns nun bis zum Abend begleiten. Für die Temperatur galt das Gleiche, es würde nicht wärmer werden, auch mittags nicht. Zum Glück war es windstill. Wenn man sich diesen Umstand bewusst machte, von dem Moment an, in dem die Windstille eintrat, konnte man sich geradezu glücklich schätzen. Wir mussten gegenwärtig nur aufpassen, wohin wir unsere Füße setzten, damit sie nicht in der Falle der gefrorenen Radspuren landeten.
Ich behielt deshalb mit stetig gesenkten Augen die Straße im Blick und dachte dabei über alles Mögliche zugleich nach, über den Zufall, das Unglück und Emmerichs Sorgen um seinen geliebten Sohn. Aber wenn ich meinen Blick gehoben hätte, und wenn ich weit genug hätte vorausblicken können, so hätte ich gesehen, wo der Zufall wohnte, der Emmerich treffen würde, und hätte die Brücke in Galizien gesehen. Ich hätte Emmerich gesehen, an einen Pfeiler gelehnt, im anbrechenden galizischen Frühling, mit weit aufgerissenen Augen. Ich hätte gehört, wie er nach Luft rang, während er Blut spuckte, wie er verzweifelt versuchte, mit uns zu sprechen, mit Bauer und mir, die vor ihm knieten und nicht wussten, was tun mit all dem Blut, das ihn erstickte. Wir wussten nicht, wie wir mit ihm sprechen sollten. Wir wussten überhaupt nicht, was wir tun sollten, als hätte das Geschoss auch uns durchschlagen, sodass wir ratlos zurückblieben, vor ihm niederkniend, nutzlos und stumm bis zum Ende.
5
Schließlich vergaß ich Emmerichs Sohn und dachte nur noch an mich selbst, dadurch verging die Zeit anders als zuvor. Wir durchquerten ein weiteres Dorf, verschlafen wie das erste, abgesehen von einem erleuchteten Fenster und dem Geruch nach Rauch.
Hin und wieder glitt ich aus und stolperte gegen Emmerich oder Bauer. Der Körperkontakt mit ihnen beruhigte mich. Noch mehrere Minuten, nachdem ich einen Arm oder eine Schulter berührt hatte, erinnerte ich mich daran, spürte noch die körperliche Empfindung.
Wir langten an einer gefrorenen Wasserfläche an, erkennbar allein durch das Schilf, das sie umgab, denn das Eis war ebenso weiß wie die Felder ringsum. Die Fläche war ziemlich groß. Der Wind hatte den Schnee an einem Ufer angehäuft, wo er einen spitz zulaufenden Hügel bildete, gleich einem Wellenkamm. In der Mitte des Eises konnte man am erstarrten Schilfrohr ablesen, in welcher Richtung der Wind an dem Tag geweht hatte, als alles zugefroren war. An jenem Tag hatte jemand einen Stock dort hineingerammt.
Bauer sagte uns, wir sollten warten, und begab sich auf die gefrorene Wasserfläche. Er hatte sein Gewehr von der Schulter genommen und gebrauchte es wie einen Gehstock, um nicht auszurutschen.
Emmerich und ich traten auf der Stelle, um uns warm zu halten, und sahen Bauer zu, wie er sich vorsichtig auf dem Eis voranbewegte. Ich spürte, wie das Glücksgefühl, sich der Arbeit entzogen zu haben, allmählich entschwand. Jetzt fühlte sich alles ganz anders an. Kaum dass er begonnen hatte, erschien uns der Tag bereits lang und von Schwierigkeiten durchzogen. Wir hatten erst die Hälfte hinter uns. Dass drüben bei der Kompanie die Arbeit vielleicht schon beendet war, hieß noch lange nicht, dass wir hätten zurückkehren können. Wir mussten den Einbruch der Nacht abwarten. Andernfalls würde Leutnant Graaf sagen: »Das habt ihr euch zu einfach gemacht, ihr Mistkerle. Das war das letzte Mal, dass man euch hat gehen lassen.« Von seinem Standpunkt aus hätte er auch recht gehabt. Und alle aus der Kompanie würden uns zu Recht mit schlimmeren Beleidigungen belegen als Graaf.
Um allen gegenüber zu rechtfertigen, dass wir zurückgekehrt waren, wäre es nötig gewesen, einige zu finden und mitzubringen. Nur hatten wir gar nicht erst begonnen, welche zu suchen. Noch nicht einmal daran gedacht hatten wir.
Mein einziger Trost war, dass noch immer Windstille herrschte. Käme der Wind noch vor dem Abend wieder auf, würde er die Erleichterung, der Arbeit entronnen zu sein, mit sich davontragen.
Bauer war in der Mitte der Wasserfläche angekommen. Er nahm sein Gewehr in beide Hände und begann, mit dem Kolben auf das Eis einzuschlagen. Splitter flogen. Bauer ließ nicht locker. Dann hielt er einen Augenblick inne und sagte: »Das Eis geht bis auf den Grund.«
»Was dachtest du denn?«, rief Emmerich ihm zu.
Bauer schlug wieder auf das Eis ein.
Ich rief: »Hör endlich auf! Was soll das?«
Er sah mich an. Ich war sicher, dass er lächelte hinter seinem Schal. Es sah aus, als sei er zufrieden. Was wir ihm sagten, scherte ihn nicht. Von Neuem ließ er Eissplitter fliegen. Jeder Schlag erklang kurz und heftig. Man konnte von hier aus hören, dass das Eis in der Tat bis auf den Grund reichte. Falls er das nur überprüfen wollte, hätte er aufhören können. Dennoch machte er mit Feuereifer weiter.
Als ich ihn gerade warnen wollte, dass sein Gewehr losgehen könnte, wenn er so weitermachte, sprach Emmerich plötzlich wieder von seinem Sohn, leise, als wollte er nicht, dass Bauer davon etwas mitbekäme: »Überall kann uns ein Unglück zustoßen. Und dann wird sein Leben ruiniert sein.«
»Du hast ganz recht«, raunte ich ihm zu. »Uns wird etwas anderes einfallen.«
»Ja«, sagte Emmerich erleichtert, »das wäre mir lieber.«
»Wir werden etwas finden.«
»Ich habe Angst, dass ich es allein nicht schaffe.«
»Wir werden alle drei darüber nachdenken.«
Emmerich betrachtete den Himmel, nicht lang, nur so lang, wie er offenbar brauchte, um zu erkennen, dass wir zu dritt waren. Darin lag für Emmerich in diesem Moment vielleicht der Trost: dass wir ihm zur Hand gehen würden. Für mich lag der Trost nach wie vor darin, dass kein Wind wehte. Und für Bauer darin, dass er auf dem Eis stand und dessen Dicke erprobte, aus Gründen, die nur er selbst kannte.
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