In meiner Brust zieht sich das Herz schmerzhaft zusammen und das Luftholen fällt mir schwer, was mir in der letzten Zeit immer häufiger passiert. Immer, wenn es um Melina geht, ist es, als würden sich meine Schuldgefühle, wie eine Schlinge um meinen Hals legen und den Knoten kontinuierlich strammer ziehen. So fest, dass ich nur noch mit Mühe atmen kann.
Während ich mich auf meine Atmung konzentriere, lichtet sich allmählich die bedrückende Enge und weicht stattdessen dem Gefühl der Wut. In mir brodelt es, weil ich mir erneut vor Augen führe, wie unfair das Leben ist. Verdammt, Melina hatte es nicht verdient zu sterben, während sich meine Welt weiterdreht. Würde es wirklich jemanden geben, der über uns Menschen richtet, hätte sich dieser Jemand den Schuldigen geholt und meine Freundin verschont.
„Fuck“, brülle ich aus voller Kehle und suche händeringend nach einer Möglichkeit meiner Frustration Luft zu machen.
Da ich niemanden verletzen möchte, jedoch den Drang verspüre auf etwas einschlagen zu müssen, donnere ich meine Faust gegen die unebene Rinde des Baumes. Den Hieb führe ich mit so viel Kraft aus, dass die dünne Haut um meine Fingerknöchel herum aufplatzt. Blut rinnt mir über die Hand, doch das stört mich nicht. Im Gegenteil, der körperliche Schmerz lenkt mich für den Moment von den im Inneren ab.
Wenn ich nicht aufpasse, werden mich meine Schuldgefühle noch um den Verstand bringen. Vermutlich bin ich schon längst an dem Punkt angelangt, an dem ich innerlich sterbe. Zumindest kommt es mir so vor, als würde ich von Jahr zu Jahr immer weiter abstumpfen. Dinge, die mir einst heilig waren, wie zum Beispiel der Sport, sind mir mittlerweile fast gleichgültig. Ich bin mir selbst gleichgültig.
Ich habe noch mit niemandem in meinem Freundeskreis über all das gesprochen. Klar, ich könnte mich Mason oder Noah anvertrauen, doch dafür fehlt mir der Mut. Ich befürchte, dass sie mich danach mit anderen Augen sehen könnten. Außerdem werden meine Jungs nie nachvollziehen können, wie es sich anfühlt, einen geliebten Menschen auf dem Gewissen zu haben. Und mit einem Seelenklempner zu reden, steht nicht zur Debatte. Ein Psychiater ist der Letzte, dem ich meine Gefühle auf dem Silbertablett präsentieren will.
Aus dem Augenwinkel heraus nehme ich eine Bewegung wahr und drehe mich, um nachzusehen, wer mir in diesem Moment der Verletzlichkeit auf die Pelle rückt. Das getupfte Kleid erkenne ich sofort. Liv hat den Kopf leicht zur Seite geneigt. Sie schaut mich an. Ihr Blick ist offen und fragend zugleich. So, als würde sie genau abwägen, ob für sie ein Risiko besteht mich anzusprechen oder ob es schlauer wäre, wenn sie das Weite sucht.
Verdammt, mit deinen vollen, einladenden Lippen, die mich permanent heiß machen, kannst du mich mit Sicherheit für eine Weile ablenke, Baby, schießt es mir durch die Gedanken.
Oh mein Gott, was ist denn nur mit mir los? Seit wann bringe ich Liv mit Sex in Verbindung? Ich meine, natürlich ist sie unglaublich attraktiv und ich würde sie unter anderen Umständen niemals von der Bettkante schubsen, doch das steht nicht zur Debatte. Olivia ist nicht nur eine gute Bekannte, sondern gleichzeitig auch meine Arbeitskollegin. Beides Todschlagargumente, die es mir verbieten mehr in ihr zu sehen, als das, was sie ist. Eine Bekannte.
Meinem Körper scheint das ziemlich egal zu sein. Wie auf Autopilot geschaltet, bewegen sich meine Beine eigenmächtig vorwärts und gehen auf Liv zu. Scharf ziehe ich die Luft ein, als mir ihr süßlich, blumiger Parfümduft in die Nase steigt. Die Enge, die noch vor wenigen Augenblicken meine Brust belegte, schwillt mit jeder Sekunde in ihrer Nähe etwas mehr ab.
„Hast du dich verlaufen oder bist du mir absichtlich gefolgt?“, frage ich sie, doch sie reagiert nicht. Sie verharrt regungslos an und Ort und Stelle und schaut mir in die Augen. „Was ist? Noch nie einen Typen gesehen, der auf einen Baum einschlägt?“ Ich provoziere sie ganz bewusst, weil ich mir erhoffe, sie mit meinen Sticheleien in die Flucht zu schlagen.
Mir ist klar, dass ich mich ihr gegenüber wie ein Arschloch aufführe. Willkommen in meinem Leben. Sie wird gerade Zeugin meiner widerwärtigsten Seite. Doch mein abweisendes Verhalten ist meine Art, die Menschen auf Abstand zu halten. Niemand soll einen Blick hinter meine gespielt coole Fassade erhaschen und miterleben, dass ich in Wahrheit ein emotionales Wrack bin. Ich kann einfach nicht anders. Diese Methode hat sich bislang als die Effektivste erwiesen. Ich würde mir eher ein Bein abhacken, als dass ich zulasse, dass irgendwer, egal ob Freund oder Feind, mitbekommt, wie schwach ich in Wahrheit bin. Niemals.
Da sie auf meinen überflüssigen Spruch nicht einsteigt und stattdessen lediglich ihre kleine Nase kräuselt, muss ich noch härtere Geschütze abfeuern.
„Willst du mich weiter so dämlich anstarren? Hast du das Sprechen verlernt?“
Innerlich zucke ich selbst wegen meiner unmöglichen Worte zusammen. Könnte meine Mutter hören, was ich soeben zum Besten gegeben habe, würde sie mich über das Knie legen und mir eine Tracht Prügel verpassen. Zu recht. Meine schroffe Art nervt mich selbst. Schließlich hat Olivia mir nichts getan. Doch ich kann nicht anders. Um mich selbst zu schützen, ziehe ich alle Register. Selbst dann, wenn ich damit Menschen verletze, die mir wichtig sind.
Allmählich verliere ich die Geduld. Ich möchte wieder allein sein und mich im Selbstmitleid baden. Merkt sie denn nicht, dass sie stört?
Bewusst gehe ich noch einen weiteren Schritt auf Liv zu, sodass ich ganz dicht vor ihr stehe. So nah, dass sich beinahe unsere Nasenspitzen berühren und ich ihren Atem auf meiner erhitzten Haut spüren kann. Ihr so nahe zu sein, ist schön und beängstigend zugleich. Beängstigend, weil ich in ihrer Gegenwart wieder etwas Positives fühle. Das ist falsch. Ich habe es mir strikt verboten, jemals wieder auch nur ansatzweise Erfreuliches zu spüren.
Auch das Eindringen in ihre Komfortzone verfehlt seine Wirkung, weshalb ich noch offensiver agiere. Um sie aus dem Konzept zu bringen, lege ich eine Hand an ihre Wange.
„Bring dich vor mir in Sicherheit, Liv. Ich bin ein ziemlich mieser Kerl“, warne ich sie.
Vermutlich sollte ich einfach gehen. Doch aus einem mir unerklärlichen Grund, bin ich in ihrer Gegenwart wie gelähmt. Selbst wenn ich wollte, ich kann mich nicht von ihr distanzieren. Olivia übt eine ungeheure Anziehungskraft auf mich aus.
Sie scheint sich von meiner Drohung nicht abschrecken zu lassen, denn sie reckt mutig das Kinn in die Höhe und hält meinem Blick stand. Dabei ist ihre Mimik undurchsichtig und verrät mir nicht die geringste Gefühlsregung.
„Verdammt, ich habe dir gesagt, dass du lieber gehen sollst. Jetzt hast du deine Chance vertan, Süße“, erinnere ich sie, bevor ich meinen Mund auf ihren krachen lassen.
Ihre warmen und weichen Lippen auf meinen zu spüren, fühlt sich fantastisch an. Olivia hebt eine Hand, lässt ihre Finger sanft über meine Wange gleiten. Ich schließe die Augen, atme sie ein. Es ist seltsam, wie schnell sich meine trüben Gedanken durch so eine simple Berührung auflösen.
Meine Brust wird von einer gefährlichen Wärme durchflutet und in mir macht sich das brennende Bedürfnis breit, dieser wunderschönen Frau in meinen Armen ganz nah zu kommen. Ich will mit ihr verschmelzen, in sie eindringen und das nicht nur auf körperlicher Ebene.
Verdammt, wo sind nur all die Mauern hin, die ich über die Jahre hinweg mühevoll um mich herum aufgebaut habe?
Ich darf nicht zulassen, dass sie mich etwas Gutes fühlen lässt. Das habe ich nicht verdient. Daher setze ich meine Maske wieder auf, damit sie nicht mein wahres Ich sehen kann und löse mich von ihr. Ohne ihr in die Augen zu sehen, mache ich auf dem Absatz kehrt und lasse sie stehen.
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