»Man kann zum Beispiel nicht in der Zeit zurückreisen und seinen eigenen Opa töten«, sagte Drake, »denn wenn du das machen würdest, hättest du nie existiert und könntest ihn deswegen nicht töten, stimmt's?«
»Genau. Eine andere Theorie, die die Absurdität des Ganzen deutlich macht, ist die Unmöglichkeitsschleife .« Sie legte eine Hand auf Drakes Unterarm. »Sagen wir mal, eine alte Frau gibt einem jungen Mann eine Uhr. Er reist in der Zeit zurück und gibt der alten Frau, die dann noch ein junges Mädchen ist, die Uhr. Das Mädchen wird alt und gibt die Uhr irgendwann dem Mann. Aber wo ist die Uhr dann ursprünglich hergekommen?«
»Davon kriege ich ja jetzt schon Kopfschmerzen«, sagte Drake.
»Deswegen nennt man es ein Zeit-Paradoxon«, erwiderte Helen lächelnd. »Aber eines ist sicher: Irgendwas, das wir gemacht haben, oder das Andy vielleicht gemacht hat, hat unsere Version der Zeit verändert, und jetzt haben wir den Salat.«
»Es ist so, wie eine Reihe Dominosteine, die in der Vergangenheit angestoßen werden und nun bei uns ankommen.«
»Genau. Der erste Dominostein kann noch winzig klein gewesen sein, doch er kann einen etwas Größeren umstoßen und so weiter, bis wir schließlich bei riesigen Veränderungen landen.«
Drake legte die Stirn in Falten. »Okay, aber sagen wir mal, man tötet vor Hundert Millionen Jahren ein paar Tiere, fällt einen Baum oder isst ein paar Beeren und Nüsse. Wo ist das Problem? Ist ja nicht so, dass das dann die letzten ihrer Art sind.«
»Verstehst du es wirklich nicht?«, fragte Ben seufzend. »Das ist doch genau das Ding. Vielleicht vernichtest du genau die eine Pflanze, die ihrerseits eine Kettenreaktion begonnen hätte.«
Helen legte die Hände zusammen. »Genau so funktioniert der Domino-Effekt . Stell dir mal vor, du gehst hunderttausend Jahre zurück und isst eine Beere. Wenn du das nicht gemacht hättest, hätte vielleicht ein Käfer diese Beere gegessen und das hätte ihn vor dem Verhungern gerettet. Dann hätte diesen Käfer später ein Vogel gegessen, der ohne diese Mahlzeit keine Eier in diesem Jahr hätte legen können, und diese Eier hätten eine ganze Familie von Urmenschen ernährt.« Sie rieb sich die Stirn und fuhr fort. »Die Familie hungert daraufhin und bekommt in diesem Jahr kein Kind, dabei wäre dieses Kind ein großartiger Anführer geworden und hätte einen Stamm gegründet, der nun niemals existieren wird. Das könnte die gesamte Welt verändern.«
Ben strich sich durch die Haare. »Und jetzt multipliziere das mit Tausend, indem du hundert Millionen Jahre zurückgehst.«
»Genau«, sagte Helen leise. »Selbst durch winzige Eingriffe können gesamte Spezies aussterben und eine andere nimmt ihre Rolle ein. Daraufhin kann eine komplett alternative Zukunft entstehen.«
»Um Himmels willen«, flüsterte Drake und stand auf. Er überlegte. »Aber warum passiert das gerade jetzt? Es ist doch nichts von alldem passiert, als Ben dort war.«
Einen Moment lang schwiegen alle und hingen ihren eigenen Gedanken nach.
»Vielleicht … äh …« Ben zog die Schultern hoch. »Vielleicht hat es etwas mit Schlüsselmomenten zu tun. Vielleicht waren die Dinge, mit denen ich interagiert habe, alle nicht wichtig … also kein Schlüssel für unseren Zeitstrahl.«
»Anders kann ich es mir auch nicht erklären«, stimmte ihm Helen zu. »Manche Spezies, und bestimmte Tiere, sind entscheidend für unsere Zeitebene. Vielleicht hat man tausendmal Glück, oder auch hunderttausendmal, aber dann isst du die eine Beere oder tötest den einen Vogel, der wirklich wichtig gewesen wäre.« Sie schaute auf. »Der ein Schlüsselmoment in unserer Geschichte gewesen wäre.«
»Na toll«, presste Drake hervor. »Okay, ich habe aber noch eine Frage. Warum betreffen uns diese Veränderungen hier in den USA, wenn wir doch in Südamerika waren?«
»Das sind auf jeden Fall globale Effekte«, erklärte Helen. »Mal abgesehen von der Verschiebung der Kontinentalplatten, waren die Meeresspiegel in den vergangenen hundert Millionen Jahren viel niedriger. Es gab Landverbindungen zwischen Afrika, Asien, Europa und uns. Tiere und Pflanzen konnten sich daher hin- und herbewegen.«
»Wir müssen uns wahrscheinlich einfach an die Veränderungen gewöhnen«, meinte Emma. »Vielleicht ändert sich ja auch einiges zum Guten. Vielleicht werden wir Menschen weniger kriegerisch, vielleicht wird es weniger Krankheiten geben, bessere Nahrung … wir müssen einfach abwarten und schauen.«
Helens Augen wurden glasig. »Oder wir hören vielleicht einfach auf, zu existieren.« Sie lächelte Emma müde an. »Eine neue Krankheit könnte entstehen, oder ein neues Raubtier. Oder vielleicht entscheiden wir uns, niemals unsere Bäume zu verlassen.«
»Wir könnten auch komplett verschwinden«, warf Drake ein. »Unsere menschliche Rasse könnte sich vor unseren Augen auflösen. Eine Person nach der anderen.«
»Dann sind wir vielleicht die einzigen Menschen auf der Welt, denen das auffällt«, sagte Ben missmutig. Erneut spürte er, wie ein Kribbeln durch seinen Körper lief und verzog das Gesicht. Er sah, wie Drake und Helen sich ansahen, und Emma legte ihm eine Hand auf die Schulter, bevor alles für eine Sekunde dunkel wurde.
»Oh Gott, schon wieder!« Emmas Griff wurde fester, sodass es Ben beinahe wehtat.
»Ja, ich habe es auch gespürt.« Drake richtete sich auf. »Was ist denn dieses Mal passiert? Was ist verschwunden, oder was ist dazu gekommen?«
Emma sah Ben an und er schaute zurück … sie dachten offenbar an das Gleiche. Sofort sprang Emma auf und rannte zur Treppe.
»Zach?« Sie nahm drei Stufen auf einmal » Zach? «
Ben stand auf, starrte in Richtung der Treppe und merkte, wie sich ihm der Magen umdrehte. Er schickte ein stummes Gebet zum Himmel.
»Was denn?«, erklang jetzt eine gedämpfte Antwort aus dem Kinderzimmer. Ben atmete aus und bemerkte erst jetzt, dass er unwillkürlich die Luft angehalten hatte. Langsam setzte er sich wieder hin.
»Die menschliche Spezies ist ein Frosch, der im Kochtopf sitzt, und das Wasser wird immer heißer«, sagte Helen gerade. »Aber genau wie der Frosch bemerkt sie gar nicht, wenn die Temperatur um ein paar wenige Grad steigt.«
»Aber was ist schlimmer?«, fragte Drake. »Es gar nicht zu bemerken, dass die Welt immer gefährlicher wird, und ein Mensch nach dem anderen ausgeknipst wird? Oder so wie wir zu sein, und es aus irgendeinem Grund mitzukriegen, was sich alles verändert?«
»Für uns ist es auf jeden Fall am gefährlichsten«, erwiderte Helen, »denn wir wissen ja nicht mal, was sich genau verändert. Denk mal an den Kronosaurier .«
Drake nickte. »Oh ja, und ich habe dir noch nicht mal von den vogelfressenden Riesenquallen erzählt.«
Emma kam mit einem erleichterten Gesichtsausdruck die Treppe herunter. Sie setzte sich neben Ben und verschränkte ihre Hände mit seinen.
»Was machen wir denn jetzt?«
»Wir können gar nichts machen«, sagte Ben.
»Bist du dir sicher?«, fragte Drake. »Klar, heutzutage können wir nichts machen … aber es ist ziemlich genau neun Jahre und acht Monate her, dass wir auf diesem verdammten Plateau waren.«
»Das bedeutet«, stieg Ben ein, »Primordia kehrt in vier Monaten wieder zurück, und dann ist das Portal auch wieder geöffnet.«
»Die Tür in die Vergangenheit, mit deren Hilfe wir verhindern können, dass sich noch mehr verändert.« Drake lehnte sich zurück.
»Nein«, sagte Emma nachdrücklich. »Auf keinen Fall. Wir sind letztes Mal nur um Haaresbreite mit dem Leben davongekommen. Das machen wir bestimmt nicht noch einmal. Warum sollten wir auch?«
»Wegen Andy«, antwortete Helen. »Was immer er dort auch anstellt, er darf nicht damit weitermachen.«
» Nein «, wiederholte Emma, dieses Mal noch nachdrücklicher. »Da mache ich nicht mit.«
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