Die letzte Bombe fiel neben ein kleines Hotel. Das kleine Hotel stand am Stadtrand, und wenn der lächelnde Jack sich nicht seine blonde Frau in Erinnerung gerufen hätte, wäre die letzte Bombe wahrscheinlich auf das Stadtzentrum gefallen. Wahrscheinlich wäre dann das zweigeschossige kleine Hotel heil geblieben, und die Familie, die in einem Winkel des engen Kellers kauerte, hätte das Siegel des Todes nicht zu spüren bekommen. Sie saß während des Fliegeralarms immer an den rechten Rand des Raums gedrängt. Hier schien ein vergittertes Lämpchen, und der Mann mit dem kahlen Hinterkopf las dann immer ein Buch. Es war das einzige Buch, das er aus Litauen mitgebracht hatte. Der zweite Band der Weltgeschichte von H. G. Wells. Warum ausgerechnet dieser im Koffer gelandet war, daran konnte sich der Mann nicht mehr erinnern. Tatsache war, dass er ihn besaß und immer im Luftschutzkeller las, weil das Lesen die Angst ein bisschen unterdrückte. Und das Anfluten der Angst hing von den nahenden Einschlägen und von dem zitternden Köpfchen des Kindes ab, das sich an die Schulter seiner Mutter schmiegte. Der emsige Leser der Weltgeschichte verbrachte diese ungemütlichen Stunden mit seiner Frau und seinem neunjährigen Sohn. Ja, das Trio saß immer in dieser Ecke, hier schien das vergitterte Lämpchen und die Gewölbedecke über ihren Köpfen war doppelt gemauert, deshalb war es gleichsam gemütlicher, gleichsam sicherer.
An diesem Abend saßen sie ruhig da. Das Stadtzentrum wurde bombardiert, und von den dumpfen Einschlägen bebten nur die feuchten Wände. Schließlich beruhigten auch sie sich. Es stand zu hoffen, dass bald Entwarnung gegeben würde. Die sechs alten Deutschen, die in der Mitte des kleinen Kellers saßen, unterhielten sich laut. Der Mann mit dem kahlen Hinterkopf löste den Blick vom Buch. Er verspürte den Wunsch, das Köpfchen seines Kindes zu streicheln. Doch das Kind schlief mit geöffnetem Mündchen, an die Brust der Mutter geklammert, und der Blick des Mannes sog das Gesicht seiner Lebensgefährtin ein. Die Lampe von fünfundzwanzig Watt erzeugte wenig Licht, das Gesicht der Frau war mit Schatten bedeckt, aber ihre dunklen Zöpfe krönten wie ein strahlender Kranz das geliebte Gesicht. Der Mann war stolz auf die Zöpfe seiner Frau. Durch sie hatte sie sich von vielen anderen unterschieden, als die beiden sich in Litauen zum ersten Mal begegneten, im bescheidenen Lehrerzimmer eines Gymnasiums in der Provinz, und diese seiner Ansicht nach wunderbare Eigenheit hatte sie bis zum heutigen Tag beibehalten.
»Was siehst du mich so an?«, fragte sie, und der Mann fand nicht gleich eine Antwort. Da lächelte sie mit geschlossenen Lippen:
»Schaust du wieder meine Zöpfe an?«
Jetzt war der Mann endgültig verwirrt. Nach elf Jahren Ehe war es für ihn noch immer wie damals, als er verstohlen ihre glänzenden Zöpfe betrachtet hatte. Deshalb legte er, um Würde zu bewahren, das Gesicht ein bisschen in Falten und steckte seine Nase übertrieben ernsthaft in das Buch. Das Lesen fiel ihm jetzt leichter – es gelang ihm nicht immer in diesem Luftschutzkeller. Und der letzte Satz lautete:
»… Die heidnischen Bulgaren schlugen unter Führung von Khan Krum (802–814) die Armeen von Kaiser Nikephoros …«
Und da fiel die letzte Bombe. Eigentlich fiel sie neben das Hotel, doch das alte Sandsteingebäude stürzte ein und verschüttete den Luftschutzkeller. Die Frau und das Kind blieben am Leben, sie wurden von der Ecke und dem doppelten Gewölbe geschützt. Das herabstürzende Gestein erschlug die drei geschwätzigen Deutschen und den Mann mit dem kahlen Hinterkopf. Er hatte einen unverzeihlichen Fehler gemacht – er war bei dem heftigen Einschlag nach vorn gesprungen, weil er zu sehr in das Buch vertieft war, kam der plötzliche Einschlag sehr unerwartet, er hatte die Gefahr vergessen. Aus seinem gespaltenen Kopf quoll die Hirnmasse und befleckte die Weltgeschichte . Es sah aus wie ein von einem ungezogenen Jungen verschütteter Teller mit Brei.
Es war genau ein Jahr her, dass die Frau mit dem blondierten Haar wie ein sechsjähriges Mädchen in ihr Zimmer gestürzt war. Sie war in den Sessel gehüpft und hatte vergessen, das Licht einzuschalten. Sie hatte mit unruhigen Armen ihre runden Knie umfangen, und ihre hellen, welligen Locken hatten das vor Freude strahlende Gesicht verdeckt. An diesem Tag hatten die Zeitungen in noch fetteren Buchstaben geschrien:
»Wir siegen! Der Krieg geht zu Ende! Wir siegen!«
Sie hatte es nicht lang ausgehalten in dem Sessel. In wenigen Sekunden erledigte sie mehrere Dinge gleichzeitig. Sie machte Licht, rannte zum Kleiderschrank und suchte das Kleid heraus, das Jack ihr geschenkt hatte. Die üppigen bronzefarbenen Blumenranken auf dem gelben Hintergrund schienen ihr so lieb und vertraut. Die Frau zog sich blitzschnell ihr Arbeitskleid aus und das Verlobungskleid an. Sie lief zum Spiegel, drehte sich wie eine Tänzerin, landete am Fenster und rief der bestirnten Kaugummireklame zu:
»Hier müsste geschrieben stehen … Bald sind der Frühling und Jack zurück!«
Wie eine kleine Schlange tänzelte sie vor dem Spiegel einen modischen Swing, bis … ein Klingeln sie unterbrach. Sie hatte es nicht gleich gehört. Sie war überschwänglich fröhlich, die Stadt lärmte, erfüllt vom Swing, und sie wollte ein bisschen weinen. Doch das Klingeln war hartnäckig. Die Frau lächelte dem Spiegel zu und schwebte zur Tür. Vor der Tür stand ein Mann mit einem weißen Briefumschlag in der Hand. Wortlos steckte er ihr den Umschlag zu und verschwand im Fahrstuhl. Sehr still schloss die Frau die Tür und ging sie sehr still zurück ins Zimmer. Sie öffnete vorsichtig mit einem Finger den Umschlag und las die maschinengeschriebenen, nüchternen Wörter. Dann ergriff sie mit beiden Händen hier, am Hals, das Kleid und riss es auseinander. Sie zerriss das Kleid, weil in dem Schreiben stand, dass Jack bei einem Einsatz gegen eine feindliche Stadt umgekommen war. Der breitschultrige, ewig lächelnde Baseballvirtuose.
Die von Obstbäumen gesäumte Landstraße lief geradewegs auf die blauen Berge zu. Auf den Gipfeln der Berge dämmerten die ordentliche Überreste von Burgen vor sich hin, über die die frühlingshaften Strahlen der Mittagsonne wanderten. Die dunkelhaarige Frau zog einen Handwagen. In dem Handwagen lagen wackelnd ein zerschlissener Koffer und ein müder kleiner Junge. Lastwagen sausten in beiden Richtungen über die Landstraße, sodass von dem Staub die Zöpfe der Frau die Farbe von Asche angenommen hatten. Während die Frau mit gleichförmigen Schritten vor sich hin schlurfte, kaute sie an ihrer Oberlippe. Diese beständige Grimasse ihrer unteren Gesichtshälfte hatte der Tod im Keller des kleinen Hotels hervorgebracht. Weinen wollte die Frau nicht. Ihre Augen schmerzten vor Trockenheit. Nicht einmal mehr von den Sandkörnern konnten sie gereizt werden, die die Reifen der Lastwagen aufwirbelten. Der Junge hatte Angst vor dem seltsamen Gesicht seiner Mutter.
»Was kaust du so?«, hatte er gefragt, als die beiden das eingestürzte Haus, das Grab seines Vaters, verließen.
»Was?!«, schrie die Mutter auf, und der Junge fragte nicht noch einmal. Die beiden gingen nebeneinander her, und er bemühte sich, nur nach vorn zu schauen. Ihre ständig sich bewegenden Lippen weckten Neugier und Unruhe in ihm.
»Warum tut sie das, und warum ist Vater …«
Nach zwei Wegstunden war er müde, bekam einen Klaps auf den Rücken und wurde in den Handwagen geworfen. Jetzt schlummerte er, so wie jedes schlecht ernährte Kind. Die dunkelhaarige Frau zog den Handwagen auf der von Obstbäumen gesäumten Landstraße, und die ordentlichen Überreste der Burgen auf den Gipfeln kamen langsam näher.
Als die Frühlingssonne deutlich höher stand, kamen die beiden an eine Brücke über einen großen Fluss. Hier, an der massiven steinernen Brüstung, blieb die Frau stehen. Hier ließen sich die beiden in das frische grüne Gras fallen, das nach Jugend duftete, und aßen kümmerliche Brotkanten. Die Lastwagen pfiffen an ihnen vorüber, und unten floss langsam das stählerne Wasser.
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