Nein, ihm ist nicht fröhlich zumute.
»Loswerden?« Es knackt im Hörer. Müller lacht scharf.
»Schick sie nach Hause. Soll sich jetzt ihr Mann erfreuen. Hab keine Angst, sie wird nicht fliehen. Du kannst sie warnen, dass wir ihren Mann erschießen, wenn sie nicht zurückkehrt. Na, wie hat es dir gefallen?«
Otto Kranz murmelt etwas Unverständliches und legt auf.
Er geht zurück.
Noch einmal begegnen sich die blassblauen und die riesigen dunklen Augen. Jetzt kann Otto Kranz ihnen nichts mehr entnehmen. Da, auf ihrer Wange, ist ein Kratzer von seinem verbogenen vergilbten Fingernagel. Wie eine rote Träne, die auf der Wange erstarrt ist. Aus irgendeinem Grund sagt Otto Kranz leise:
»Sie können gehen.«
Sie hört es nicht. Er hustet. Er wiederholt den Satz.
Die Frau erhebt sich. Bringt sich in Ordnung. Zieht ihren schmutzigen Regenmantel an. Als sie am Fenster vorübergeht, wird sie von der Abendsonne ganz erleuchtet. Die Flecken auf ihrem Gesicht und der Regenmantel, die abgetragenen Schuhe und ihr reglos herabhängender Arm.
Die Frau bewegt sich aufrecht, sie wankt nicht. Der feine persische Teppich saugt das Geräusch auf, es ist, als würde sie davonschwimmen.
Die Tür schlägt zu.
Zuerst laut, dann immer leiser – ihre Schritte auf der Treppe. Bis sie mit dem Lärm der Straße verschmelzen.
Otto Kranz geht zum Tisch und trinkt den Cognac mit großen Schlucken.
Über die Kronen der Kiefern ziehen eilig fahle Wolken. Die Kronen werden leicht vom Wind gebogen. Die Menschen, die an der rechteckigen Grube stehen, schweigen. Viele Rücken. Schmale, breite, männliche, weibliche. Und kindliche kleine Rücken, an die Beine ihrer Eltern geschmiegt. Die in Lumpen gehüllten Rücken und entblößten Genicke warten.
Hier, auf dem Hügel, wartet eine Gruppe grün Uniformierter auf den Befehl. An ihren Kragen die Zickzacks. Diese Menschen sind bedeutend freier. Sie unterhalten sich halblaut auf Deutsch, rauchen. Sogar kurzes Gelächter ist zu hören. Viele Gesichter sind gerötet. Vom Alkohol.
In den Reihen der Rücken beginnt ein Kind zu schreien. Vor Müdigkeit, Hunger oder unverständlicher Angst – das ist nicht klar. Die Mutter verschließt mit ihrer Hand den kindlichen Mund. Wieder Stille.
Der famose Müller blickt prüfend auf die Uhr. Es wird Zeit. Er ruft die grünen Uniformen. Diese werfen die rauchenden Zigaretten ins Gras und treten an.
Otto Kranz versteht nicht, wozu er hergekommen ist. Er zählt die wartenden Genicke und murmelt nur mit den Lippen. Mann, Frau, Mann, Mann, Kind, Frau …
Natürlich, sein Freund Müller hat ihn hierher geschleppt! Er hat ihm starke Eindrücke versprochen. Doch Otto Kranz ist sogar ein wenig gelangweilt. Er gähnt, schaut zu den hellen Wolken (genau solche wie in Thüringen!) und zählt wieder die Genicke. Mann, Mann, Frau …
Stopp! Der schmutzige Regenmantel, die Flecken, die blauschwarzen Haare kommen ihm bekannt vor … Wo war das nur?
Sonnenstrahlen gegen Abend …
Das Schlagen der Tür …
Schritte auf der Treppe, vom Straßenlärm verschluckt …
Ah! Otto Kranz reckt sich sogar, so sehr wünscht er sich, die Jüdin möge sich zu ihm umdrehen. Er würde gern noch einmal in diese durchdringenden, dunklen Augen sehen. Was ist jetzt in diesen Augen? Vielleicht Schrecken? Es wäre interessant, in diesen dunklen, durchdringenden Augen Schrecken zu sehen.
Er geht ein paar Schritte nach vorn, Müller bemerkt es und ruft von dem Hügel:
»Vorsicht! Wir fangen an!«
Otto Kranz spürt Scham. Er bleibt stehen, dreht sich um, geht zurück. In diesem Augenblick legen die Maschinengewehre los. Als er sich umdreht, sind der fleckige Regenmantel und die blauschwarzen Haare bereits verschwunden. Und überhaupt ist die Zahl der Rücken und Genicke kleiner. Die Gebliebenen fallen in die Grube. Als würden sie von unsichtbaren Händen in die Tiefe gezogen.
Otto Kranz sieht nicht mehr hin. Er legt den Kopf in den Nacken. Beobachtet die hellen Wolken (genau solche wie in Thüringen!). Bis die Maschinengewehre aufgehört haben.
Schluss. Die grünen Uniformen machen sich auf den Heimweg. Einer hebt aus dem Gras eine noch immer rauchende Zigarette auf.
Als das kurvende Auto die beiden in die Stadt zurückbringt, wagt Otto Kranz es. Gleichsam im Scherz:
»Du hast heute meine Geliebte erschossen.«
Der famose Müller lacht:
»Deshalb hast du die beiden sentimentalen Schritte nach vorn gemacht.«
Otto Kranz ist es unangenehm. Er fragt trotzdem:
»Und ihr Mann?«
»Den Mann später. Er ist ein erfahrener Tischler.«
Otto Kranz öffnet die geschwollenen Lider. In der Küche ist es hell und leer. Frau Zerfling ist wohl in die Stadt gegangen. Er kann sich nicht mehr erinnern, wann er vom Tisch auf das enge Sofa umgezogen ist. Er hat die ganze Nacht angezogen geschlafen.
Er erhebt sich. Er öffnet den Hahn der Spüle, das Wasser rinnt in einem kleinen Strahl. Er benetzt seine schmerzenden Schläfen. Dann überlässt er für kurze Zeit seinen geschorenen Kopf dem Wasserstrahl. Ah, wie gut, wie wunderbar Wasser ist. Die ganze kleine Welt der Küche wird heller.
Otto Kranz nimmt das Handtuch vom Haken und wischt sich rasch den Kopf ab. Dabei versucht er, ein Lied aus der Vergangenheit zu pfeifen.
Und da … schneidet sich aus dem Hinterhalt der gestrige Tag in sein Gehirn.
Oh! Er sieht wieder den Juden mit dem reglosen wächsernen Gesicht. Und sogleich drängt sich neben dieses Gesicht der gestrige Gedanke. Ist er bemerkt worden? Nein, es ist eine unverzeihliche Dummheit, sich in den Straßen herumzutreiben. Frische Luft, ha! Es reicht, wenn er das Fenster drei Mal am Tag aufmacht. Es war völlig überflüssig von der Stadtverwaltung, diese verfluchten Laternen aufzuhängen.
Er war schon fast zu Hause gewesen, nur einmal abbiegen und die letzte Laterne lagen noch vor ihm. Aus irgendeinem Grund war er unter ihr stehen geblieben. Einen Aushang oder etwas Ähnliches hatte er lesen wollen. Ja, er hörte die Schritte, aber zu spät. Er konnte sich nirgendwo verstecken. Vielleicht hätte er davonlaufen müssen, doch er verspürte keinerlei Angst. Sein Selbsterhaltungsinstinkt hatte ihn dieses Mal getäuscht.
Und in dem klar umrissenen Lichtkegel sind die beiden sich begegnet.
Und er konnte nicht begreifen, ob ihn der Jude mit dem reglosen, wächsernen Gesicht erkannt hatte. Es geschah in einem einzigen Augenblick. Otto Kranz blieb nicht stehen. Er erkannte diesen Mann nicht einmal gleich. Aber jetzt funktionierte sein Selbsterhaltungsinstinkt. An dieses Gesicht erinnerte er sich, es war gefährlich für ihn.
Otto Kranz beschleunigte die Schritte, bog in eine dunkle Gasse ein und begann zu rennen. Er musste nicht lange rennen. Der Überrest des zweistöckigen Hauses war ganz in der Nähe. Seine Heimstatt.
Jetzt funktionierte sein Gehirn recht gut. Er sah sich um. Die Straße lag leer und dunkel da. Am Himmel hingen einige fahle Sterne. In der Ferne rumpelten Straßenbahnen. Es war still. Er wurde nicht verfolgt.
Trotzdem schlüpfte Otto Kranz nicht gleich durch die Tür. Er ging an ein paar Häusern vorüber, verschwand hinter einem Mauervorsprung. Wartete. Jetzt erinnerte er sich genau an das Gesicht, dem er begegnet war. Auf welche Weise, war schwer zu sagen. Zuerst war wohl das blitzende Lächeln des famosen Müller in ihm aufgestiegen, und dann … Dann war alles klar.
Sekunden, Minuten und Viertelstunden zogen sich in die Länge. Die Straße lag leer und dunkel da, es schienen dieselben wenigen Sterne, es rumpelten die Straßenbahnen. Nein. Er wurde nicht verfolgt. Wirklich nicht.
Nach einer guten Stunde wagte Otto Kranz es, sich durch das Eingangstor seines Hauses zu schleichen …
Es ist möglich, dass er es nicht bemerkt hat, denkt er, während er sich jetzt seinen Kopf langsam abwischt. Natürlich, heute Abend wird er aus der Stadt verschwinden müssen. So schnell wird er sich nicht ergeben. Und Otto Kranz versucht sich auf Adressen zu besinnen, wo er sich eine neue Bleibe suchen könnte.
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