»Welche Art von Schwierigkeiten?«, fragte James, ein Hühnerbein hing vergessen zwischen seinen Fingern.
»Es klang, als ob sie ihn umbringen würden. Zumindest sagte er das.«
Sie ließen das Gehörte für eine Minute sacken. Vito und James Mienen waren wie versteinert, sie schienen ihm seine Geschichte nicht wirklich abzunehmen.
»Er wollte meine Hilfe bei dem Computervirus«, fuhr Leon schließlich fort.
»Was weißt du schon von Computerviren?« Vito lachte.
Das Gelächter verletzte Leon, aber er versuchte, es zu ignorieren. »Nichts. Deswegen benutzte ich eine Grundlage, von der ich etwas verstehe: Biologie. Ich zerlegte frei zugängliche Virensuchprogramme, um herauszufinden, wie sie Virenverhalten erkennen. Dann schrieb ich einen Virus, der Programmteile von Virusscannern benutzt, um virusähnliches Verhalten in anderen Programmen zu erkennen und deren Algorithmen dann in seinen eigenen Quellcode zu integrieren. Also, Viren machen mehrere Dinge: Sie nutzen Sicherheitslücken auf Computern, sie übertragen sich von Computer zu Computer, und sie übernehmen andere Programme, um sich für sie auszugeben. Die Leute denken dann, sie würden im Internet surfen, während sie eigentlich einem Virus ihre Kreditkarteninformation geben. Der Virus, den ich geschrieben habe, ist eine Art Metavirus, der Teile anderer Viren in sich aufnimmt. Er probiert sie aus, behält, was funktioniert und stößt die unnützen Codes ab. So entwickelt er sich beständig weiter.«
»Schwachsinn. Das erfindest du doch alles nur.« Vito ging zum Kühlschrank zurück und stöberte dort in den Fächern.
»Nein, ich sage euch die Wahrheit. All das«, und dabei breitete Leon die Arme aus, um auf die sie umgebende Welt zu deuten, »all das geht auf mein Konto. Und das weiß ich, weil ich wollte, dass wir uns keine Viren einfangen. Also jedenfalls niemand unter 18. Versteht ihr, der Virus prüft die Metadaten der Nutzer und befällt keine Systeme, die von jemandem unter 18 betrieben werden. Würdet ihr jetzt den verdammten Kühlschrank zumachen und mir endlich zuhören!«
Vito und James legten hastig das Essen zur Seite, und James schloss verlegen die Kühlschranktür.
»Zeig' es uns«, sagte James und sah Leon herausfordernd an.
»Okay, schick mir eine Nachricht von deinem Smartphone.«
James zog sein neues Gibson heraus. Leon sah auf, und sein aufkeimender Neid spiegelte sich auch in Vitos Zügen wider. James' Finger glitten über sein Smartphone, und Sekunden später summte Leons Smartphone, und Vitos Handy blinkte. Leon sah auf sein Display. Du lügst.
»Okay, und was soll das beweisen?«, fragte James.
»Jetzt schickst du eine Nachricht an jeden Erwachsenen, den du kennst. Schreib, was du willst. Ich garantiere dir, dass sie nicht antworten werden. Vito, du kannst es auch versuchen.«
Vito nahm sein vorsintflutliches Motorola und begann, darauf herumzudrücken, während James über sein Display wischte.
Leon beobachtete, wie Vito die kleine Tastatur auf seinem alten Motorola quälte, und schämte sich für ihn. Leon war nicht gerade reich, weswegen er sich nicht immer die neuesten Gadgets leisten konnte. Vitos Eltern hatten Geld. Aber sie hatten sich entschieden, dass er ihre abgelegten Geräte benutzen musste. Leon schüttelte traurig den Kopf. Das alte Motorola hatte vermutlich nur acht Kerne und keine dezidierte Grafik. Es war, als würde man im Automobilzeitalter ein Pferdefuhrwerk benutzen.
Nachdem sie ihre Nachrichten gesendet hatten, zogen sie sich mit ihrem geplünderten Essen ins Wohnzimmer zurück und machten es sich bequem. Die Minuten verflogen, als sie aßen und scherzten. Es kamen keine Antworten. Leon probierte den Fernseher aus. Die LED für den Netzbetrieb leuchtete zwar auf, aber sonst geschah nichts. Er versuchte, etwas von seinem Smartphone auf den Fernseher zu streamen, aber es geschah wieder nichts. Er ging zurück in die Küche, klopfte mit seinem Smartphone auf den Tisch, aber wieder passierte nichts. Der kleine Bildschirm seines Smartphones begann sich mehr und mehr wie eine Zwangsjacke anzufühlen. James und Vito beobachteten sein Verhalten mit Amüsement.
Schließlich ließ er sich auf das Sofa fallen. »Und? Eine Viertelstunde ist 'rum. Irgendwelche Antworten?«
»Nein«, antworteten James und Vito gleichzeitig.
»Okay, dann versucht andere Freunde – irgendjemand unter 18.«
Vito und James probierten es wieder, und dieses Mal bekamen sie binnen Sekunden eine Antwort.
»Ja, ich kann jeden erreichen«, sagte James. Zum ersten Mal wirkte er ein wenig unsicher.
»Da seht ihr es, es muss mein Virus sein.«
»Und was willst du jetzt machen?«, fragte Vito.
»Ich weiß es nicht. Was kann ich denn machen? Ich habe keine Ahnung von Virenbekämpfung.«
»Warum machst du dir darüber Sorgen«, fragte James. »Du weißt doch, es gibt Leute, die sich um solche Dinge kümmern. Gibt es da nicht irgendeine Gruppe, die so etwas regelt? SURF? SURP? Irgendetwas in dieser Richtung.«
»CERT. Computer Emergency Response Team.« Leon starrte dabei aus dem Fenster.
»Da hast du es. Es gibt Leute, die sich darum kümmern. Und wir haben keine Schule. Das ist schrill. Das ist kein Problem, sondern große Klasse. Du musst lernen, dich zu entspannen.«
Leon antwortete nicht. Er starrte weiterhin aus dem Fenster.
Alexis Gorbunov ließ den Kopf hängen. Dann hob er ihn langsam, streckte seinen Nacken und nahm den letzten Schluck aus seinem Glas. Er hatte seinem Boss für heute ein funktionierendes Bot-Netz versprochen.
Alexis stand auf, schlurfte zur Tür hinüber und streifte seinen Wollmantel über. Dieses Mal hatte er es wirklich vergeigt. Er hatte nicht nur kein Bot-Netz, sondern Leons Virus hatte außerdem für einen massiven Ausfall des Internets gesorgt.
Erst hatte alles gut ausgesehen. Phage war unglaublich infektiös. Sein Viruskontrollprogramm nutzend, konnte Alexis zusehen, wie das Bot-Netz auf hunderttausende, dann auf Millionen von Computern anschwoll. Alexis hatte sogar Testprogramme laufen lassen, um Benutzernamen und Passwörter abzugreifen. Dann aber sank plötzlich die Anzahl der Viren, die auf das Kontrollprogramm reagierten, obwohl die Netzwerkauslastung weiter anstieg. Alexis hatte den Verdacht, dass es an diesem verdammten, evolutionären Virus lag. Er veränderte sich immer weiter, und der Junge hatte anscheinend nichts eingebaut, das sicherstellte, dass der Kontrollprogrammcode nicht verändert wurde. Das Virus hatte sich weiter entwickelt, und er hatte die Kontrolle darüber verloren.
Alexis zündete sich eine neue Zigarette an und ging nach draußen. Traurig schüttelte er den Kopf. Der Netzwerkausfall würde Aufmerksamkeit erregen. Eine Untersuchung würde die Quelle des Virus identifizieren. Der alte Mann würde zweifellos hinter ihm her sein, weil er die Behörden auf ihre Spur gebracht hatte, ganz davon abgesehen, dass es ihm nicht gelungen war, das Bot-Netz wieder aufzubauen. Er zog den Wollmantel enger um seinen Körper. Er hoffte, dass der alte Mann nicht auch Leon jagen würde. Aber daran konnte er jetzt nichts mehr ändern.
Sich auf der Straße nach allen Seiten umsehend, ging er zu seinem alten Mercedes hinüber. Der Wagen mit dem auf Alkoholbetrieb umgebauten Verbrennungsmotor, war massig und langsam und Sprit dafür war schwer zu bekommen. Aber der Wagen war gepanzert, war Teil der letzten Wagenlieferung gewesen, die die Mafia von den Arabern gekauft hatte, als denen die Petrodollar ausgingen. Gebaut, um einen Scheich vor seiner randalierenden Bevölkerung zu schützen. Jetzt hegte er die Hoffnung, dass er ihn auch vor seinem eigenen Auftraggeber schützen konnte.
Die meisten Fahrzeuge auf der Straße standen still, und ihre Benutzer verfluchten sie, aber der 30 Jahre alte Mercedes hatte keine eingebauten Computerchips und war auch zu alt, um aufgerüstet zu werden. Computer konnte man jederzeit aufspüren, und Alexis wollte nicht gefunden werden. Mit leisem Motorgrollen lenkte er den Wagen auf die Fahrbahn und fuhr einen Slalom um die Liegengebliebenen Fahrzeuge. Er hatte einen Notfallplan für diese Art von Problemen. Der alte Mann, der Don, würde erwarten, dass er zu seiner Datscha im Norden fuhr. Er aber würde zur Datscha seiner Exfrau im Westen fahren, wo er ein Lager mit Euro und Yen sowie seine gefälschten Pässe hatte. Er würde einen Flug nach Japan nehmen, wo er als Ausländer zwar auffiel, aber seine guten Japanisch-Kenntnisse würden ihm einen Vorteil gegenüber seinen Verfolgern verschaffen. Und er konnte in Chiba, ein wenig östlich von Tokio, seine Dienste anbieten. Chiba war der Hotspot für die neueste halblegale Hardware.
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