Sally blickte in die Runde, konnte sowohl den Patuxent Freeway in der Nähe und den Baltimore-Washington Freeway in der Ferne sehen. Auf beiden Autobahnen standen alle Fahrzeuge still. Es war kein Stau – dafür standen sie zu weit auseinander. Sie hatten einfach angehalten.
»Was ist passiert, Private?«
»Ich weiß es nicht, Ma'am. Vor etwa 15 Minuten hielten alle Fahrzeuge einfach an, die zivilen wie auch die militärischen. Ich habe nur ein paar alte Jeeps mit Dieselmotor auf der Basis herumfahren sehen, aber das war es dann auch schon, Ma'am.«
Sally blieb noch eine Weile stehen, dann ging sie eilig zum Gebäude zurück. Als sie im Kontrollraum von USCYBERCOM eintraf, atmete sie ein wenig schwer.
»General, ich habe es gesehen. Aber was bedeutet es, Ma'am?«
»Genau das sollen Sie herausfinden. Die gesamte zivile Kommunikation und alle Fahrzeuge sind zurzeit außer Betrieb. Halten Sie die befallenen Basen weiter unter Quarantäne, aber ziehen Sie Ihre Leute, die die Netzwerke segmentieren, ab. Stattdessen möchte ich, dass Sie sich den Virus ansehen. Ich will wissen, was er tut. Ich will, dass Sie mir sagen, wie wir ihn bekämpfen können. Wir müssen doch irgendetwas in unserem Arsenal haben. Und schicken Sie jemanden mit Kaffee. Ich denke, Ihre Leute können ihn gebrauchen.«
Sally sah nach ihrer Einheit, die schon seit acht Stunden im Dienst war und normalerweise Schichtende hätte. Sie konnten wirklich Kaffee und ein Frühstück vertragen.
»Ja, Ma'am, wir kümmern uns darum.«
Leon drückte den Knopf des Fahrstuhls noch ein drittes Mal, bevor er aufgab. Letztes Jahr war der altertümliche Aufzug häufiger außer Betrieb gewesen, als er funktioniert hatte, aber nach Monaten ständiger Reparaturen hatte die Hausverwaltung ihn durch ein brandneues Modell ersetzen lassen. Leon schüttelte ratlos den Kopf, als er zum Treppenhaus ging. Es war das erste Mal, dass der neue Aufzug kaputt war. Er ging die sechs Stockwerke nach unten zu Fuß.
Als er auf die Seitenstraße, an der ihr Appartementhaus lag, hinaustrat, fühlte sich irgendetwas nicht richtig an. Neugierig sah er sich um, als er langsam zu seiner Schule ging. Die Straßen waren um diese Zeit wie gewöhnlich voller Menschen. Leute gingen zur Arbeit, warteten auf den Bus oder saßen in ihren Wagen. Aber ihre Stimmen waren laut, fast durchdringend. Die Erkenntnis traf Leon wie ein Blitz: Da waren gar keine Motorengeräusche. Keines der Fahrzeuge auf der Straße bewegte sich. Er sah die Straße hinunter. Vielleicht hatte weiter vorne jemand eine Panne?
Leon setzte seinen Weg fort, ignorierte die Erwachsenen und bog in die Flatlands Avenue ein, eine große, vielspurige Straße. Dort hielt er an, und sein Mund blieb ihm vor Überraschung offen stehen. So weit sein Auge reichte, hatte sich die Flatlands Avenue in einen gigantischen Parkplatz verwandelt. Er spähte in beide Richtungen.
Seltsamerweise schien es sich nicht um einen Stau zu handeln. Die Fahrzeuge waren großzügig verteilt. Einige standen im schiefen Winkel herum. Erwachsene liefen auf der Straße und den Bürgersteigen herum und ließen die Türen ihrer Autos offen stehen. Die Stadtbusse standen still und bewegungslos neben den anderen Autos.
Um bessere Sicht zu haben, sprang er auf einen öffentlichen Briefkasten, seine Turnschuhe quietschten auf der glatten Metalloberfläche. Von seinem erhöhten Aussichtspunkt sah er ein Feuerwehrauto ein paar Blocks entfernt, zwar mit Sirene und blinkenden Lichtern, aber bewegungslos. Es stand an einer Kreuzung mit genug Platz zum Wenden, aber es stand einfach nur da. Einen halben Block weiter sah er einen Streifenwagen, ebenfalls mit Blaulicht. Der Polizist stand mit dem Mikrofon in der Hand auf der Straße.
Leon sprang von dem Briefkasten herunter und lief zu dem Polizisten hinüber. »Was ist denn hier los?«
»Keine Ahnung, Junge. Alle Fahrzeuge stoppten vor etwa einer Stunde. Der Funk tut es auch nicht mehr.« Der Polizist wandte sich ab, um an seinem Funkgerät zu hantieren, und Leon ging langsam davon, während sein Gehirn bei dem Versuch rotierte, zwei und zwei zusammenzuzählen.
Er lief die paar Blocks zur Schule, tief in Gedanken versunken, nur um eine Menschenmenge vor dem Haupteingang vorzufinden. Die Rektorin stand auf den Stufen, hinter ihr kämpfte der Hausmeister mit der Eingangstür.
»Die Schule bleibt geschlossen«, rief die Rektorin, und ihre Stimme klang heiser. »Wir können keine Schüler einlassen. Wir bekommen die Sicherheitstüren nicht auf, und das Internet ist sowieso ausgefallen. Geht nach Hause.«
Ein lauter Begeisterungsschrei ging durch die Gruppe der Schüler, und die Menge löste sich rasch auf, bevor die Rektorin es sich anders überlegen konnte.
Leon war starr vor Staunen. War das wirklich möglich? Es musste so sein. In seinem Kopf drehte sich alles. Geschah das alles wegen seinem Virus?
Jemand schlug ihm plötzlich auf den Rücken, und er wirbelte herum, sah aber nur Vito und James. Nach kurzem Zögern gab er seinen Freunden den Faustgruß, und sie mischten sich unter die restlichen Schüler, die das Gelände verließen.
»Wohin«, fragte James.
»Das Diner«, antwortete Vito, und sie überquerten die Straße, nur um festzustellen, dass ein paar hundert Jugendliche auf dieselbe Idee gekommen waren. Es war hoffnungslos, denn als sie dort ankamen, war die Tür verschlossen. Ein handgeschriebenes Schild hing an der Innenseite der Tür: ›Geschlossen: Küche defekt wegen Computerausfall.‹ Eine Kellnerin in blauer Uniform stand drinnen und verscheuchte sie von der Glastür.
»Scheiße«, sagte Vito. »Ich bin am Verhungern.«
»Lasst uns zu mir gehen, Leute. Ich muss euch etwas erzählen.«
Als sie an seinem Appartementhaus ankamen, fanden sie die vordere Sicherheitstür offen, und der Fahrstuhl war immer noch außer Betrieb. Sie gingen die Treppen hinauf in sein Appartement. Vito plünderte den Kühlschrank, und Leon begann zu erzählen.
»Funktionieren eure Handys noch?«
»Was? Ja sicher doch«, antwortete James und sah auf seines.
»Und deins?«
Vito unterbrach seine Suche nach Aufschnitt und Mayonnaise, um nach seinem Handy zu sehen. »Ja, wieso?«
»Weil keins der Telefone der Erwachsenen noch funktioniert und ihre Computer auch nicht. Nirgendwo auf der ganzen Welt.«
»Wovon redest du da?«, fragte James, der gerade selbst mit der Plünderung der Vorräte begann und sich an dem Hühnchen von gestern bediente.
»Sagt mal, hab' ich euch je von meinem Onkel Alex erzählt?«
Die beiden anderen Jungen schüttelten ihre Köpfe. Beide hatten ihren Mund voller Essen.
»Er lebt in Russland. Vor zehn Jahren ist er hier in den Staaten aufs College gegangen, ging aber dann zurück. Ich weiß nicht warum, aber wir blieben immer in Kontakt. Letzte Woche schickte er mir eine Nachricht. Er erzählte mir, dass er für die Russenmafia arbeitet.«
»Was, das hat er dir erzählt?«, fragte Vito mit ungläubiger Stimme.
»Na ja, nicht direkt. Aber ich las es zwischen den Zeilen, und es war das, was er mir sagen wollte. Er arbeitet für das organisierte Verbrechen, er schreibt Computerviren für sie. Er ist einer der Typen, die Bot-Netze erschaffen.«
»Du sprichst von diesen großen Netzwerken, die aus infizierten Rechnern bestehen«, fragte Vito, »die, die von den Russen benutzt werden, um Firmen zu erpressen, DOS-Attacken durchzuführen und so ein Zeug?«
James hörte mitten im Kauen auf, um zu hören, was Leon antworten würde.
»Genau. Und er sagte, dass er in großen Schwierigkeiten sei. Die Viren, die er im Laufe des letzten Jahres schrieb, waren nicht mehr so effektiv. Er wusste nicht, warum, aber das Bot-Netz war nur noch ein Schatten seiner selbst. Er klang so, als wäre er in ernsten Schwierigkeiten, wenn er nicht bald einen außergewöhnlichen Virus schreiben konnte.«
Читать дальше