»Wartet, wartet!«, rief Bidwell und drängte sich durch die Schaulustigen. »Macht Platz!« Er lief ans Tor, merkte, dass er vor Erwartung zitterte. Er schaute zu Jennings hoch, der am Ende einer fünfzehn Fuß hohen Leiter auf der Plattform des Wachturms stand. »Sind es weiße Männer?«
»Ja, Sir«, antwortete Jennings. Er war ein Hänfling mit wilden, dunkelbraunen Haaren und nicht mehr als fünf Zähnen im Mund, aber er hatte Augen wie ein Adler. »Zwei sind's. Was ich meinte … ich glaube, die sind weiß.«
Bidwell konnte sich darauf keinen Reim machen, wollte in diesem wichtigen Moment aber nicht zaudern. »Also gut!«, sagte er zu Pauling und Reed. »Macht auf!« Der Baumstamm wurde emporgehoben und aus der Verankerung gezerrt. Dann packte Reed die beiden hölzernen Griffe und zog das Tor auf.
Bidwell ging mit ausgestreckten Armen hinaus, um seinen Retter zu umarmen. Eine Sekunde später erstarb ihm sein freundlicher Willkommensgruß allerdings auf den Lippen.
Vor ihm standen zwei Männer: Ein beleibter Kahlkopf und ein dünner Mann mit kurz geschnittenen schwarzen Haaren. Doch keiner von beiden war der, den er zu begrüßen gehofft hatte.
Er nahm an, dass sie weiß waren – durch die Schlammschicht, mit der sie bedeckt waren, ließ es sich schwer sagen. Der dicke Ältere trug einen dreckigen Mantel, der unter der Schlammkruste schwarz zu sein schien. Er war barfuß und seine dürren Beine schmutzig. Der jüngere Mann trug lediglich etwas, das wohl als Nachthemd dienen konnte, und schien sich vor Kurzem damit im Matsch gesuhlt zu haben. Schuhe hatte er an, wenn auch sehr dreckige.
Die Hunde waren durch die Aufregung so außer sich geraten, dass sie die Neuankömmlinge mit aller Luft in ihren Lungen anbellten und anknurrten. Die Fremden schienen ganz benommen zu sein, dass es Menschen mit sauberer Kleidung gab.
»Bettler«, sagte Bidwell mit gefährlich leiser Stimme. Er hörte über der Wildnis Donner grollen und dachte, dass es wie das Hohngelächter Gottes klang. Seine freudig ausgestreckten Arme fielen schwer herunter. »Bettler hat man mir geschickt«, sagte er etwas lauter und begann, in Gottes Gelächter einzustimmen – zuerst leise, doch dann quoll das Lachen wild und unkontrollierbar aus ihm heraus. Es tat seiner Kehle weh und trieb ihm Tränen in die Augen, und obwohl er sich innig wünschte, damit aufzuhören – es verzweifelt versuchte –, merkte er, dass er keinerlei Kontrolle darüber hatte. »Bettler!«, rief er keuchend. »Ich … bin … gerannt … um Bettler zu empfangen!«
»Sir«, sagte der dickere Mann und machte einen barfüßigen Schritt auf ihn zu. Sein dreckbespritztes Gesicht sah verärgert aus. »Sir!«
Bidwell schüttelte den Kopf und lachte weiter. Jetzt schien sich Weinen darunterzumischen. Er wedelte mit der Hand, um den wandernden Bettler fortzuschicken.
Isaac Woodward atmete tief ein. Als ob die höllische Nacht im Regen nicht schon genug gewesen war, kam nun noch dieser verrückte Geck, um seine Geduld zu prüfen. Es war zu viel. »Sir!«, bellte er mit seiner Richterstimme, die laut und scharf genug war, um für einen Augenblick selbst die Hunde verstummen zu lassen. »Ich bin Richter Woodward aus Charles Town!«
Bidwell hörte und schluckte. Sein letzter Lacher blieb ihm in der Kehle stecken. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er die halb nackte Gestalt an, die sich Richter nannte.
Ein Gedanke durchschoss Bidwells Gehirn wie der Stich einer Hornisse: Wenn die uns wen schicken, wird das irgendein Irrer sein, den sie dort aus einer Anstalt entlassen haben.
Etwas in seiner Nähe stöhnte auf. Seine Augenlider zuckten. Die Welt um ihn herum – das Unwetter, Gottes Stimme, die grüne Wildnis, Bettler und Richter, Parasiten in den Apfelbäumen, Trümmer und Vernichtung wie unter den Schwingen eines Geiers – drehte sich. Er trat einen Schritt zurück und tastete nach etwas, an das er sich anlehnen konnte.
Doch da war nichts. Den Kopf voller kaltem grauen Nebel fiel er auf die Harmoniestraße, die ihn unsanft auffing.
Es klopfte an der Tür. »Herr Richter? Master Bidwell hat mich geschickt, um Euch zu sagen, dass die Gäste da sind.«
»Ich komme sofort«, antwortete Woodward. Er erkannte die Haushälterin an ihrem schottischen Akzent. Das letzte Mal, als er ein Klopfen an einer Tür gehört hatte, war sein Leben dem Ende nahe gewesen. Natürlich reichte schon der bloße Gedanke daran, dass dieser Unhold jetzt seine golddurchwirkte Weste trug, um Woodward das hellblaue saubere Hemd falsch zuknöpfen zu lassen, das er sich gerade angezogen hatte. »Verdammt!«, sagte er zu seinem Konterfei im ovalen Wandspiegel.
»Sir?«, fragte Mrs. Nettles hinter der Tür.
»Ich habe gesagt, dass ich sofort komme!«, rief er wieder.
»Jawohl, Sir«, gab sie zurück und entfernte sich schweren Schrittes durch den Flur zu dem Zimmer, in dem Matthew untergebracht war.
Woodward knöpfte das Hemd zu, das an den Armen etwas kurz und am Bauch sehr eng war. Es gehörte zu den Kleidungsstücken – Hemden, Hosen, Westen, Strümpfe und Schuhe –, die der Gastgeber für ihn und Matthew gesammelt hatte, nachdem Bidwell aus seiner Ohnmacht erwacht und darüber informiert worden war, was mit ihren Sachen geschehen war. Bidwell, der erkannte, dass Gottes Gnade ihn endlich ereilt hatte, stellte ihnen daraufhin wohlwollend zwei Zimmer in seinem Herrenhaus und Kleidungsstücke in annähernder Größe zur Verfügung. Auch Notwendigkeiten wie frisch geschärfte Rasiermesser und ein heißes Bad wurden organisiert. Woodward hatte befürchtet, dass er sich all den Dreck nie wieder von der Haut schrubben konnte, doch auch die letzten Krümel hatten unter einem rauen Schwamm und festem Rubbeln nachgegeben.
Er hatte sich bereits eine schwarze Hose angezogen, die ebenfalls etwas eng ausfiel, sowie weiße Strümpfe und ein Paar schwarzer, kantiger Schuhe. Über das Hemd zog er eine grauseidene Weste, die Bidwell ihm aus seinem Kleiderschrank zur Verfügung gestellt hatte. Erneut musterte er sein Gesicht im Spiegel und bedauerte, dass er diesen Menschen kahlköpfig und mit Altersflecken übersät entgegentreten musste, denn eine Perücke war ein zu persönliches Stück, als dass er sich eine hätte leihen können. Aber gut, so war es eben – zumindest hatte er überlebt. Wenn er ganz ehrlich sein wollte, hätte er sich lieber schlafen gelegt, als Bidwells Ehrengast zu sein, denn er war noch immer erschöpft. Nach seinem Bad hatte er drei Stunden geschlafen, und das würde reichen müssen, bis er sich wieder auf der ausgezeichneten, mit Federn gefüllten Matratze des Betts ausstrecken konnte, das hinter ihm stand.
Als letzte Vorbereitung sperrte er den Mund auf und betrachtete seine Zähne. Seine Kehle fühlte sich recht trocken an, doch das war nichts, was ein Schluck Rum nicht beheben konnte. Nach Sandelholzseife und dem Zitronenöl des Rasierwassers duftend öffnete er die Tür seines großzügig angelegten Zimmers und betrat den mit Kerzen beleuchteten Flur.
Unten folgte er dem Klang von Stimmen in einen holzvertäfelten Raum, der sich gleich neben dem Haupteingangsbereich befand. Das Zimmer war für eine Versammlung vorbereitet worden. Die Stühle und anderen Möbelstücke waren zur Seite gerückt worden, um genügend Platz zu schaffen, und ein freundliches Feuer brannte in einem Kamin aus weißem Stein. Im Laufe des verregneten Abends war es kalt geworden. Ein aus Geweihen gefertigter Kerzenleuchter, zwischen dessen Geweihspitzen ein Dutzend Kerzen flackerten, hing von der Decke. Bidwell war bereits da, mit einer neuen opulenten Perücke und einem weinfarbenen Samtanzug bekleidet. Er stand neben zwei anderen Gentlemen, und als Woodward den Raum betrat, unterbrach er sein Gespräch. »Aha, hier kommt der Richter! Sir, konntet Ihr Euch etwas erholen?«
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