Seine Kameraden nannten ihn einen Schlaukopf, einen Racker, der klug genug sei, sich aus der Klemme zu ziehen, und er hatte sich fest vorgenommen, dieser Kritik Ehre zu machen.
Sein angeborenes, normannisches Gewissen war durch die tägliche Praxis des Soldatenlebens, durch die Beispiele von Räubereien in Afrika, von unerlaubtem Missbrauch, von bedenklichen Prellereien abgestumpft und elastisch geworden; außerdem war er überreizt von den in der Armee geltenden Ehrbegriffen, von den quasi heroischen Taten, von denen die Unteroffiziere unter sich zu erzählen wissen und von dem ganzen Ruhmesglanz des Soldatenlebens, sodass sein Gewissen zu einer Art Kiste mit dreifachem Boden wurde, wo alles Mögliche zu finden war.
Doch der Drang, Karriere zu machen, beherrschte alles andere.
Ohne dessen bewusst zu sein, war er wieder in Träumereien versunken, wie das allabendlich geschah. Er träumte von einem Liebesabenteuer, das ihm mit einem Schlag die Erfüllung aller seiner Hoffnungen bringen sollte. Er würde die Tochter eines Bankiers oder eines vornehmen großen Herrn heiraten, nachdem er sie auf der Straße getroffen und auf den ersten Blick erobert hätte.
Der schneidende Pfiff einer einzelnen Lokomotive, die ganz allein, wie ein großes Kaninchen aus seinem Bau, aus dem Tunnel hervorkam und mit vollem Dampf über die Schienen nach dem Maschinenschuppen lief, erweckte ihn aus seinen Träumen. Die etwas verwirrten Gedanken an diese frohen Hoffnungen, die sein ganzes Innere erfüllten, hatten ihn erfrischt, und er warf einen Kuss in die Nacht hinaus, einen Liebesgruß an das Bild der ersehnten Frau, einen Kuss des Verlangens nach dem Glück, das er begehrte. Dann schloss er das Fenster und begann sich auszukleiden, wobei er murmelte: »Ach was, morgen früh werde ich besser aufgelegt sein. Heute Abend ist mein Kopf zu schwer, vielleicht habe ich auch ein bisschen zuviel getrunken. Unter solchen Bedingungen kann man nicht gut arbeiten.« Er legte sich zu Bett, blies die Lampe aus und schlief fast unmittelbar danach ein.
Er wachte frühzeitig auf, wie man an Tagen lebhafter Hoffnungen oder großer Sorgen aufwacht, sprang aus dem Bett und öffnete das Fenster, um einen Schluck frischer Luft zu nehmen, wie er zu sagen pflegte.
Die Häuser in der Rue de Rome gerade gegenüber, jenseits des breiten Eisenbahndammes, leuchteten im hellen Schein der Morgensonne, als wären sie mit Licht weiß gemalt. Rechts in der Ferne sah er den Hügel von Argenteuil, die Höhen von Sannois und die Mühlen von Orgemont in leichtem, bläulichem Dunst, wie hinter einem dünnen, durchsichtigen Schleier, der auf den Horizont geworfen war.
Ein paar Minuten blieb Duroy in der Betrachtung der weiten Landschaft versunken und murmelte: »Es wäre doch verdammt schön da draußen an einem solchen Tag wie diesem.« Dann fiel ihm ein, dass er arbeiten müsste, und zwar sofort, und dass er für zehn Sous den Jungen des Concierge zu seinem Bureau schicken müsste, um sich krank zu melden. Er setzte sich an den Tisch, tauchte die Feder in das Tintenfass, stützte den Kopf mit der Hand und suchte nach Einfällen. Alles vergebens. Nichts fiel ihm ein.
Trotzdem verlor er nicht den Mut. Er dachte: »Es ist nicht so schlimm, ich bin eben nicht daran gewöhnt. Das ist ein Handwerk, das man wie jedes andere lernen muss. Die ersten paarmal muss ich mir helfen lassen. Ich werde Forestier aufsuchen, und er macht mir meinen Artikel in zehn Minuten zurecht.
Er zog sich an.
Als er auf der Straße war, dachte er, dass es wohl noch zu früh sei, sich schon seinem Freund vorzustellen, denn er pflegte lange zu schlafen. Er ging langsam unter den Bäumen der äußeren Boulevards auf und ab.
Es war noch nicht neun Uhr. Er erreichte den Park Monceau, der vom frischen Tau noch ganz feucht war. Er setzte sich auf eine Bank und begann wieder zu träumen. Ein sehr eleganter, junger Mann ging vor ihm auf und ab, offenbar in Erwartung einer Frau.
Endlich kam sie, verschleiert, mit hastigen Schritten, und nach einem kurzen Händedruck nahm er sie beim Arm und verschwand.
Ein stürmischer Trieb nach Liebe schoss durch Duroys Herz, ein heißes Verlangen nach einem vornehmen, parfümierten, zarten Liebesabenteuer. Er stand auf, setzte seinen Weg fort und dachte dabei an Forestier. Hatte der Glück gehabt!
An der Haustür traf er mit Forestier zusammen, der gerade fortgehen wollte: »Du hier? So früh? Was willst du denn?«
Duroy war verlegen, dass er ihn gerade beim Aufbruch störte und stotterte: »Es... es ... es handelt sich um meinen Artikel, ich kann ihn nicht fertigbringen, weißt du, den Artikel, den Herr Walter über Algier haben will. Es ist eigentlich kein Wunder, weil ich doch bisher noch nie geschrieben habe. Hier, wie bei allem, ist Übung nötig. Ich weiß ganz genau, ich werde mich sehr leicht hineinfinden, aber jetzt beim ersten Mal weiß ich nicht recht, wie ich es anfassen soll. Ich habe wohl die Ideen, die sind alle da, aber es gelingt mir nicht, sie zum Ausdruck zu bringen.«
Er hielt inne und zauderte ein wenig. Forestier lächelte listig und sagte:
»Das kenne ich.«
»Ja«, fuhr Duroy fort, »so muss es am Anfang jedem gehen. Ich wollte also ... ich wollte dich daher bitten, mir eine kleine Anleitung zu geben. In zehn Minuten würdest du es mir schon zurechtmachen, mir den nötigen Schwung beibringen. Du würdest mir da eine gute Lektion im Stil geben, denn ohne dich, glaube ich, bringe ich es nicht fertig.«
Der andere lächelte noch immer vergnügt. Er klopfte seinem alten Kameraden auf den Arm und sagte:
»Geh zu meiner Frau hinauf, sie wird die Sache ebensogut in Ordnung bringen wie ich. Ich habe ihr diese Arbeiten beigebracht. Ich habe leider heute früh keine Zeit, sonst hätte ich es ja gern getan.«
Duroy wurde plötzlich wieder verlegen, er zögerte und getraute sich nicht.
»Aber jetzt zu dieser Zeit kann ich sie unmöglich stören?«
»Doch, sicher kannst du das. Sie ist auf. Du findest sie in meinem Arbeitszimmer, sie hat einige Schriftstücke für mich zu ordnen.«
Duroy weigerte sich noch immer, hinaufzugehen.
»Nein ... das geht nicht!«
Forestier packte ihn bei der Schulter, drehte ihn herum und schob ihn die Treppe hinauf: »Also, geh doch, dummes Schaf, wenn ich es dir sage. Du wirst mich nicht etwa zwingen wollen, die drei Treppen wieder hinaufzuklettern, dich vorzustellen und deine Sache auseinanderzusetzen.«
Da entschloss sich endlich Duroy. »Danke, ich gehe, ich werde ihr sagen, dass ich auf deine Veranlassung komme, dass du mich gezwungen hast, sie aufzusuchen.«
»Gut. Sei unbesorgt, sie frisst dich nicht auf. Aber vergiss nicht nachher um drei Uhr.«
»Oh, hab keine Angst.«
Forestier ging schnell davon, während Duroy langsam Stufe für Stufe die Treppe hinaufstieg, denn er wusste nicht recht, was er oben sagen sollte, und war nicht sicher, wie er empfangen würde.
Der Diener öffnete; er trug eine blaue Schürze und hielt einen Besen in der Hand.
»Der Herr ist ausgegangen«, sagte er, ohne eine Frage abzuwarten.
Duroy ließ sich nicht abweisen.
»Fragen Sie Madame Forestier, ob sie mich empfangen könnte, und sagen Sie ihr, dass ich im Auftrag ihres Gatten käme, den ich eben auf der Straße getroffen habe.«
Dann wartete er. Der Diener kam zurück, öffnete rechts eine Tür und meldete: »Madame lässt bitten.«
Sie saß auf einem Schreibtischsessel in einem kleinen Zimmer, dessen Wände durch schwarze Bücherregale mit wohlgeordneten Büchern gänzlich verdeckt waren. Nur die Einbände mit ihren bunten Farben, rot, blau, gelb, grün und violett, brachten Frohsinn in diese einförmigen Bücherreihen.
Bekleidet mit einem weißen, spitzenbedeckten Morgenkleid, wandte sie sich ihm lächelnd zu, und als sie ihm die Hand reichte, sah er unter dem weit geöffneten Ärmel ihren nackten Arm.
Читать дальше