1 ...8 9 10 12 13 14 ...18 Früh* vor Mittag kehren die Kehrichtsucher schon an ihr heimatliches Ufer des Styx zurück. Langsam kommen sie und horchen wieder auf die Melodie der Welt. *[ Von „Früh“ bis „Welt“ gestrichen].
Aber sie sind nicht mehr allein. Zu ihnen gesellten sich * * [Text bricht hier ab.]
Diese Niedrigsten von allen, die mit den niegewaschenen Händen, wie zart behandeln sie die kleinen Erdbeeren, wie halten sie eine Melone * * [Text bricht hier ab.]
Kurze Vision.
Ich werfe mich [daraufhin*] *[gestrichen] in ein Büschel Gras, halb aus Glück halb aus Müdigkeit. Ich stecke Nase und Gesicht tief an die nassschwarze Erde, die hier, ebenso wie in der entlegensten Ebene, nach Minze und Ewigkeit riecht, nach Sauerampfer und Kraft. Ist das der Notausgang aus den Elyseischen Feldern? Die Rückkehr zur Natur? An der Schulter der Böschung zieren und schmücken sich Leberblümchen und Anemonen. Löwenzahn, Rittersporn und Wolfsmaul rüsten sich zur Liebe und Jagd, mit Speeren und Kolben und gespaltenen Zungen. Mein Menschentanz [von gestern Abend*] *[gestrichen] war er frenetischer und* halsbrecherischer* **[gestrichen] als der der zehntausend, [bei der Dämmerung hinsterbenden*] *[gestrichen] Sommerfliegen in dieser Sonnensäule? Da ringelt ein Bach sich vorbei: ein kleiner Bach, ein imitierter Bach, ein ganz naiver Bach neben der grossen Allee. Und ich finde dieselbe Welt von Liebe und Furcht: die silbernen Fische, die Flösse der Holzwürmer, die aufgeregten Molche, die rudernden Spinnen, Wasserlinsen und Zitterrohr, und am Ufer die ahnungslosen Liguster, die kleinäugigen Eidechsen, die königlichen Hirschkäfer, die grossäugigen Eulen, [Eichhörnchen*] *[gestrichen]. Kleine Demut und Bühne grausamer Dramen, Andacht und Mord in Klee und Schierling, bei Meise und Ameise. Eifersucht und Angst, Hunger und Hass wie bei uns, wie bei uns.
Ich schlief: drei Stunden, drei Minuten oder drei Jahrhunderte!
Ich springe auf. Ich muss mich retten vor dir, barmherzige und tödliche Natur! Fliehen, wieder fliehen? Wohin? In die polierte, geziegelte, asphaltierte, porzellanene Stadt. In die* *[Text bricht hier ab.]
Bericht
Bei diesem Tagebuch in Paris von Iwan Goll handelt es sich um einen unveröffentlichten Text, der im Nachlass von Robert Warnebold überdauerte und sich seit 2018 im Besitz des Franz-Michael-Felder-Archivs der Vorarlberger Landesbibliothek befindet.
— Meinen 33. Frühling : Yvan Goll wurde am 29. März 1891 geboren. Im Jahre 1924 wäre er 33 Jahre alt geworden.
— Paul Colin (1892 – 1985). Französischer Grafiker und Maler. Geprägt vom Art Déco, schuf er Plakate und Bühnenbilder. 1964 stellte er bei der documenta III in Kassel aus.
— Clarté: Im Jahr 1919 von Henri Barbusse unter der Bezeichnung „Clarté“ gegründete Vereinigung „Internationale des Geistes“, die vor allem in Frankreich, mit Sitz in Paris, erfolgreich agierte. Dem Direktionskomitee gehörten u. a. an: Henri Barbusse, Paul Colin, Georges Duhamel, Anatole France, Andreas Llatzko, Madeleine Marx, Jules Romains und René Schickele. Die bereits 1918 von Iwan Goll gegründete Zeitschrift Menschen. Clarté wurde im Auftrag des Pariser Zentralkomitees als „Bruderblatt der internationalen Zeitschrift Clarté“ in Paris veröffentlicht. Clarté wurde von Goll von 1918 bis 1921 herausgegeben. Der darin abgedruckte, von Goll ins Deutsche übersetzte Brief von Henri Barbusse (19.12.1920) stellte die Zeitschrift unter die Clarté -Bewegung.
— Kriegsbändchen im Knopfloch : Verdienstorden im Ersten Weltkrieg. Bisweilen auch noch zur Ordensschnalle des Trägers passend gefertigt.
— Eines fünfjährigen sterileren Kriegs : Der Erste Weltkrieg 1914 – 1918.
— Marcel Cachin ( 1869 – 1958). Französischer Politiker. Trat 1891 der Partie ouvrier français bei, wurde später einer der Begründer der Parti communiste français. Von 1918 – 1958 Herausgeber der Zeitung L’Humanité.
— Sanskulott : „Sansculottes“ (von französisch culotte = Kniebundhose, sans = ohne) wurden im Frankreich des 18. Jahrhunderts die unteren Bevölkerungsschichten genannt. Sie trugen nicht – wie üblich bei den reichen Adligen und dem Klerus zu jener Zeit – Kniebundhosen oder Seidenstrümpfe (culottes), sondern lange Hosen, die zum Arbeiten praktischer waren. Zunächst beinhaltete der Begriff den Spott über die einfache Bevölkerung, später wurde er Synonym für die radikalste Massenbewegung in der Französischen Revolution: Den „Sansculottes“ gelang es, durch ihren hartnäckigen Protest, die Ziele der Revolution durchzusetzen: Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit.
— whitmansche […] Hymnen : Walt Whitman (1819 – 1892). Amerikanischer Dichter mit Hauptwerk Leaves of Grass , 1855.
— Pontifen : Richtig: Pontifex: Plural: Pontifices. Sakraler Beamter, Priester.
— Napoleon : Napoleon Bonaparte (1769 – 1820). Französischer General und Kaiser der Franzosen.
— Planken : Regale.
— Ulstermantel : Schwerer Stadt- oder Sportmantel für Herren. Stoffgewicht über 650 Gramm.
— Styx : In der griechischen Mythologie ein Fluss der Unterwelt sowie eine Flussgöttin. Sie trennte die irdische Welt von dem Totenreich des Hades. An seinen Ufern sollen die Götter gesessen haben.
— Elyseischen Feldern : Auch: Elysische Felder. Die von Goll gewählte Frage ist nicht eindeutig zu klären. Die 1789 so benannte Strasse Champs Elysées in Paris bedeutet: Allée der elysischen Felder.
Es gibt keine Autobiographie von Yvan Goll. Sein Werk ist seine Autobiographie. Seine früheste autobiographische Äußerung stammt aus der 1919 von Kurt Pinthus edierten Lyrik-Anthologie Menschheitsdämmerung : „Iwan Goll hat keine Heimat: durch Schicksal Jude, durch Zufall in Frankreich geboren, durch ein Stempelpapier als Deutscher bezeichnet. Iwan Goll hat kein Alter: seine Kindheit wurde von entbluteten Greisen aufgesogen. Den Jüngling meuchelte der Kriegsgott. Aber um ein Mensch zu werden, wie vieler Leben bedarf es. Einsam und gut nach der Weise der schweigenden Bäume und des stummen Gesteins: da wäre er dem Irdischen am fernsten und der Kunst am nächsten.“
Den Namen Iwan Goll hatte sich der 1891 als Isaac Lang in Saint-Dié-des-Vosges Geborene schon 1915 zugelegt. Bereits im Oktober 1911 zeichnete er einen Brief an Max Brod mit Iwan Lazang. Drei Vornamen-Pseudonyme, 15 Nachnamen-Pseudonyme: Das lebenslange Unbehaustsein des Isaac Lang lässt sich deutlicher nicht zeigen. Während er sich mit Pseudonymen maskierte, erhob er in seiner Dichtung jedoch den Anspruch auf Klarheit: „Ein Dichter soll ein Kind seiner Zeit sein.“ Doch schon wenige Monate später schrieb Goll selbstbewusst an Kurt Wolff, den jungen Verleger des ebenso jungen Kurt Wolff Verlags: „Sehr geehrter Herr! Bezüglich meiner Sendungen vom 27. Okt. u. 21. Nov. frage ich Sie ergebenst, was Sie beschlossen haben: ob die Ihnen übersandten Gedichte die Hoffnung haben, mit dem Wasserzeichen versehen Ihre handgreiflichen Objekte werden zu können. Ich würde sicher nicht so drängen, wenn ich nicht verpflichtet wäre, auf anderweitige Anfragen (Bachmair) eine bestimmte Antwort zu geben. Mit vorzüglicher Hochachtung ergebenst Iwan Lang, cand. jur. (PS: Iwan Lassang).“
Die Literaturgeschichte zählt Yvan Goll zu den Expressionisten, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg bekannt wurden und die die literarische und kulturelle Entwicklung der nachfolgenden Jahrzehnte stark beeinflussten. Als er 1919 aus der Schweiz nach Paris übersiedelte, fand Goll schnell Anschluss an die französische Avantgarde: Paul Eluard, André Malraux, Louis Aragon, André Breton und Wladimir Majakowski suchten in Paris seine Freundschaft. Seine Zweisprachigkeit war dabei Erleichterung und Hindernis zugleich, wie seine Werke der 1920er Jahre zeigen.
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