Mahi Binebine - Rue du Pardon

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In der ärmlichen Rue du Pardon in Marrakesch ist Hayat aufgewachsen, die Erzählerin in Mahi Binebines neuestem Roman. Wegen ihrer blonden Haare wird sie verachtet, und auch in ihrer Familie erfährt sie Gewalt. Hayat flüchtet und gewinnt dank Mamyta, der größten orientalischen Tänzerin Marokkos, ein neues Leben. Mamyta ist eine Art Geisha – Sängerin, Tänzerin, Liebhaberin. Eine freie Frau in einer Gesellschaft, in der vieles verboten ist. Sie tanzt an Festen und in den beliebten Kabaretts. Verunglimpft und bewundert zugleich, sind ihre Lieder eine Mischung aus Unanständigem und Heiligem.
Wenn man Mahi Binebine liest, glaubt man, diese stolzen Frauen vor sich tanzen zu sehen, und wird verzaubert.

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Mahi Binebine

Rue du Pardon

Roman

Aus dem Französischen von Christiane Kayser

Der Autor Mahi Binebine geboren 1959 in Marrakesch Marokko Studium der - фото 2

Der Autor

Mahi Binebine, geboren 1959 in Marrakesch (Marokko). Studium der Mathematik in Paris. Lehrer. Hinwendung zur Literatur und Malerei. Heute gilt er als bekanntester Maler Marokkos, seine Bilder hängen u.a. im New Yorker Guggenheim-Museum. Sein umfangreiches schriftstellerisches Werk wurde in verschiedene Sprachen übersetzt und u.a. mit dem Prix de l’Amitié Franco-Arabe ausgezeichnet. Nach Jahren in Frankreich und den USA lebt Mahi Binebine seit 2002 wieder in Marrakesch. www.mahibinebine.com.

Die Übersetzerin

Christiane Kayser, geboren 1954 in Esch-sur-Alzette, Luxemburg, übersetzt aus dem Französischen, u. a. Tahar Ben Jelloun, Jean Vautrin, Tonino Benacquista, Boualem Sansal und Fouad Laroui. Sie lebt teils in Berlin und teils in einem Dorf südlich von Toulouse. Sie engagiert sich ausserdem seit vielen Jahren in der Entwicklungszusammenarbeit in verschiedenen Ländern Afrikas. Mitgründung des Pole Institute in Goma, D. R. Kongo, Begleitung der Afrikaarbeit des Zivilen Friedensdienstes beim Evangelischen Entwicklungsdienst (EED), später Brot für die Welt. Sie ist Mitherausgeberin des Mapinduzi Journal und der Reihe Building Peace / Construire la Paix .

Titel der französischen Originalausgabe:

Rue du Pardon

Copyright © 2019 by Editions Stock

E-Book-Ausgabe 2021

Copyright © der deutschen Übersetzung

2021 by Lenos Verlag, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Coverfoto: Gabriel Boisdron

eISBN 978 3 85787 987 6

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Für Abdellah, der zu früh von uns gegangen ist

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

1

Mit meiner Dreikäsehöhe balancierte ich auf einem wackligen Hocker vor dem Spiegel im Bad und erhaschte einen Blick auf den Anflug von Augenbrauen, den oberen Teil meiner Stirn und den Gummi, der meine widerspenstigen Locken bändigte. Ausserhalb meines Sichtfelds wucherte meine dichte Wildfangmähne, die meine Mutter verabscheute. Sobald ich mich ihr näherte, bewegte sich ihre Hand wie von einem Magneten angezogen zu der wilden Mähne, den Glutbüscheln, die sie vergeblich zu glätten versuchte. Was wie Zärtlichkeit wirkte, war in Wahrheit der tägliche Kampf meiner Erzeugerin gegen die natürliche Unordnung der Dinge. Doch die starrköpfige und eigensinnige Natur behauptete immer wieder ihr Recht. Sobald ich aus dem Haus trat, entledigte ich mich meines Stirnbands und wurde wieder zum kleinen, molligen Wuschelkopf aus der Rue du Pardon. Ich habe mich oft gefragt, warum meine Mutter sich so sehr an meinem Haar störte. Sah sie einen Fluch darin? Die Vorboten meiner künftigen Verdammnis? Vielleicht. Jedenfalls sah sie mich an wie eine Ausserirdische von einem unbekannten Planeten, die hier gestrandet ist. Sie konnte noch so viel unter ihren Vorfahren wie denen meines Vaters nachforschen, sie fand nicht den Hauch eines Ahnen, von dem ich einen solchen Wuschelkopf geerbt haben könnte, der noch dazu blond war!

Ich meinerseits fühlte mich ebenfalls nicht zu diesem Stamm zugehörig, in den ich hineingeboren worden war und bei dem ich eine schwierige und bedrückende Kindheit durchlebt hatte. Abgesehen vom gewalttätigen und heimtückischen Charakter meiner Eltern war ihre Welt stumpf, trist, phantasielos und tödlich langweilig. Der einzige heitere Tupfer in meiner Umgebung bestand in den mit Goldfaden auf einen Gebetsteppich gestickten Koransprüchen an der Wand des Wohnzimmers. Noch bevor ich lesen lernte, liebte ich es bereits, meine Pupillen durch die auf dem samtenen Hintergrund ineinander verschlungenen Arabesken zu verwirren. Der Rest wurde von der Farbe Grau bestimmt: Wände, Behänge, Gesichter, Mobiliar. Bis hin zum Fell der Katze. Ein verstaubtes Grau in allen Tönen der Depression. Passend zum Dekor herrschte bei uns von morgens bis abends düsteres Schweigen. Hätte Vater die Spatzen zum Schweigen bringen können, nichts hätte ihn davon abgehalten. Was Musikhören betraf, war nicht daran zu denken. Vater stellte das Radio nur zu den genauen Zeiten der Nachrichtensendungen an. Dann leierte eine tiefe Stimme monoton die Einzelheiten der glorreichen königlichen Taten herunter, wie immer gefolgt von einem Einheitsbrei aus Katastrophen, Kriegen und Schiffbrüchen.

Jedoch hatte ich mich – wie es Kinder so gut mit ihren Eltern können – an die Meinen angepasst, an die Dürftigkeit ihrer Empfindungen und an ihre Hässlichkeit. Durch eine geheimnisvolle Alchemie hatte ich eine Blase geschaffen, in die ich mich flüchtete, sobald die Umgebung toxisch wurde. Im Schutz meiner Blase liess ich mich vom Atem der Engel hinwegtragen. Es wird Sie überraschen, dass ein Schwarm als Schmetterlinge verkleideter Engel ein kleines Mädchen in seiner Luftblase hoch in den Himmel ziehen kann. Ich verstehe Ihr Erstaunen. Doch ich versichere Ihnen, genau wie ich Sie sehe, sah ich jene himmlischen Kreaturen auffliegen, beschwingt von den wunderbaren Geschichten, die mir Serghinia erzählte. Sie sagte, deren Mission auf Erden sei, den Weg für die Künstler zu bereiten.

Habe ich Ihnen eigentlich erklärt, dass ich eine Künstlerin bin?

Seit meiner frühesten Kindheit konnte ich die Sprache der Engel entziffern; deshalb verschaffte ich mir mit eigenen Mitteln Zutritt zum Reich der Träume und der Schmetterlinge. Ein bezauberndes und verzaubertes Reich aus Funken, Schauern, Lachgrübchen und allen Farben des Regenbogens. Inmitten der trockenen, strengen Starre meines Umfelds fand ich dort die Anmut der Rundung, den Tanz der Spirale, die zarte Eleganz, das Feingefühl und die Feinsinnigkeit der Wesen, die sich auf Zehenspitzen bewegen.

Eine Göttin regierte dieses Land: unsere Nachbarin Serghinia. Später werde ich Ihnen die fabelhafte Geschichte dieser Künstlerin erzählen, in deren Haus ich – wie ich heute ohne Angst bekennen kann – das Glück gefunden habe. Diese Frau war meine Familie, meine Freundin, meine Zuflucht.

Vor dem Spiegel im Bad von Serghinias gepflegter Wohnung konnte ich auf Zehenspitzen meine etwas abstehenden Ohrläppchen sehen, geschmückt mit massiven silbernen Ohrreifen, die mir meine Mutter verbot ausserhalb der Feiertage zu tragen. Das schonungslose Spiegelbild zeugte vom Ausmass der Katastrophe: ein mit schreiend rotem Lippenstift verschmiertes Gesichtchen, glänzend, kein Teil meiner sonst so weissen Haut ungeschminkt; Hurenrot , wie es meine Mutter genannt hätte, einer dieser zinnoberroten Töne, die mich auf Serghinias vollen Lippen so faszinierten. Das Wort »Hure« bekam einen besonderen Charakter in meinen jungfräulichen Ohren, wenn meine Mutter es aussprach. Hu-re. Das knallte wie die Eleganz einer befreiten Frau, das verlangte nach der Freiheit, öffentlich in einer hautengen seidenen Dschellaba mit dem Hintern zu wackeln, das hielt die brennende Fahne der Auflehnung hoch in den Himmel.

Doch ganz unten am Ende des Spiegels, wo die weissen Kacheln an der halboffenen Tür aufhören, sah ich – während ich die Augen wegen meiner sündigen Schminke weit aufriss – Serghinias strahlendes Gesicht. Unter theatralisch gerunzelten Augenbrauen grollten ihre leuchtenden Augen kaum, verziehen schon halb. Sie kam mit ausgebreiteten Armen auf mich zu, beunruhigt, da sie einen Sturz befürchtete.

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