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Brüder machen manchmal Kummer
Saga
Brüder machen manchmal Kummer
© 1965 Lise Gast
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711508398
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com– a part of Egmont, www.egmont.com
„Reni!“
Das war Mutters Stimme. Reni, die gerade quer über den Spielplatz zwischen den beiden Heimhäusern rannte, bremste so plötzlich, daß sie um ein Haar hingeschlittert wäre. Sie hatte zu Christian gewollt, der ihr von drüben winkte. Er sah ihr Rutschen und machte unwillkürlich die Balancebewegung auch, mit der sie sich fing; das wirkte so komisch, daß Reni laut lachen mußte. Und durch dieses Lachen vergaß sie den Ärger, den sie erst gespürt hatte: Mutter rief, wer weiß, was man jetzt wieder unbedingt ‚mußte‘.
Mutter gehörte zum großen Glück nicht zu der Sorte Eltern, die andauernd etwas wollen. ‚Reni, tu dies oder laß das‘, ‚Reni, lauf und hol mir —‘ nein, so war Mutter nicht. Deshalb hatte Reni sich fest vorgenommen, wenn sie schon rief, immer sofort und ohne mauliges Gesicht zu erscheinen.
Mutters Einstellung kam sicher auch davon, daß sie nicht nur für die eigene Familie, sondern für das ganze geliebte Heim am Berge verantwortlich war. So wie die Heimkinder ihre freien Stunden hatten, obwohl auch sie sonst nicht ohne kleine Pflichten waren, respektierte Mutter auch Renis und Christians Freizeit. Jetzt aber hatte sie gerufen, und Reni versuchte in Eile, sich darauf einzustellen, daß dieser erste Ferientag nun keiner werden würde. Dann also begannen erst morgen die großen Ferien. Es kommt nur auf den Standpunkt an, von dem aus man das Leben anguckt, hatte Vater ihr gesagt. Schön, sie wollte es versuchen.
„Ja, Mutter, ich komm schon!“
Reni lief, nicht ganz so schnell wie vorhin, in entgegengesetzter Richtung; immerhin so, daß niemand behaupten konnte, sie trödelte. Und siehe da, sie wurde überraschend belohnt. Mutter hatte überhaupt nicht die Absicht, sie zu irgendeiner zeitraubenden Beschäftigung herzurufen, — Brüderchenhüten, beim Kirschenaussteinen helfen oder Postwegbringen, sondern zu einer Überraschung, die Renis Herz hüpfen ließ.
„Nur einen Augenblick, Reni“, sagte Mutter, „mal sehen, ob dir meine Reithose paßt. Möchtest du sie haben?“
„Die helle?“ fragte Reni atemlos. Mutter besaß eine wunderbare, beigefarbene Jodpurhose, eine von dem Schnitt, den man sowohl zu Stiefeln als auch zu Halbschuhen tragen kann, und die außerdem einen Lederbesatz hatte, einen richtigen, zünftig mürbe gerittenen. Reni hatte sie von jeher um diese Hose heimlich beneidet. Wahrhaftig, Mutter trug sie in der Hand.
„Du bist in letzter Zeit so gewachsen. Eigentlich gehört sich das gar nicht, dreizehn Jahre bist du und fängst an, einem über den Kopf zu schießen.“ Mutter lachte und hielt ihr die Hose mit dem Bund um den Gürtel. Reni sah an sich hinunter.
„Darf ich mal reinschlüpfen?“ fragte sie eifrig. Mutter nickte.
Die Hose paßte. Sie saß wie angegossen, und Reni ließ die Tür von Mutters Stube offen stehen, während sie in den Flur rannte, um sich im großen Spiegel bewundern zu können. Mutter blickte ihrer jungen Tochter nach.
Wahrhaftig, das Mädchen war so groß wie die Mutter! Eine eigentlich ganz unerklärliche Rührung bewegte Mutters Herz: Nun war Reni schon fast erwachsen, und sie hatte so wenig von ihr gehabt. Erst hatte sie das Kind ins Heim geben müssen, weil sie selbst verwitwet und berufstätig war, und als sie Reni endlich zu sich nehmen konnte, hatte das Kind sich heiß und wild zurückgesehnt in ihr geliebtes Heim am Berge. Erst seit anderthalb Jahren lebten beide zusammen als richtige Familie. Mutter hatte Renis Onkel Doktor geheiratet, der Christian, seinen Sohn aus erster Ehe, mitbrachte, und lange Zeit war Reni viel mehr Onkel Doktors Kind und Christians Schwester als ihre, Mutters, Tochter gewesen. Jetzt aber hatte die Liebe zu den Pferden sie beide doch sehr innig verbunden.
„Darf ich sie wirklich tragen?“ fragte Reni, als sie in der Hose wieder kam. Mutter lachte.
„Nicht nur tragen, behalten. Ganz. Ich reite doch nicht mehr“, sagte sie freundlich. Reni bewunderte sie. Diesen Satz ohne Tränen herauszubringen, wenn man so gern geritten war wie Mutter, dazu gehörte ein tapferes Herz. Sie nahm Mutter ganz schnell um den Hals und drückte sie an sich.
„Danke“, sagte sie leise und ein wenig verlegen, „danke, Mutter. Wunderbar! Jetzt bin ich richtig eingekleidet.“ Sie wollte noch etwas hinzusetzen, bremste aber ab, so, wie sie vorhin ihr Rennen abgestoppt hatte. Vielleicht war jetzt noch nicht der richtige Moment, mit dem herauszurücken, was ja wiederum ein Wunsch war, ein wilder, heißer Herzenswunsch. Renis Wünsche waren immer so, das lag in ihrer Natur, und Mutter sah es mit Sorge. Auch jetzt blickte sie nachdenklich auf die Tochter. Dann sagte sie:
„Ich schenke sie dir nicht ohne Absicht, Reni. Verraten darf ich nichts, ich tu es auch nicht, aber ich glaube, du wirst sie in nächster Zeit gebrauchen können.“
„Weil?“ Reni bekam ganz runde Augen vor Spannung. „Weil — ach, sag doch, Mutter!“
„Es ist eine Überraschung, die Vater sich ausgedacht hat“, sagte Mutter nach sekundenlangem Zögern, „wiedermal hat er — ach Reni, wißt ihr eigentlich, was ihr für einen Vater habt, Christian und du?“
„Und Brüderchen, nicht zu vergessen“, fiel Reni stürmisch ein, „wir drei haben einen ganz, ganz lieben Vater, aber auch eine ganz tolle Mutter“, fügte sie schnell hinzu. Mutter durfte nicht zurückstehen, auch nicht im Spaß. „Eine Mutter, die ihre schönste Hose verschenkt — danke danke danke!“
Weg war Reni. Mutter sah ihr nach. Aber sie kannte nun ihre Tochter schon ein wenig: Immer wurde Reni schrecklich verlegen, wenn sie sich freute. Und gefreut hatte sie sich bestimmt!
Reni war die Treppe hinuntergefegt und sauste über den Hof, dorthin, wo Christian noch stand.
„Wie findest du mich?“ fragte sie, nach Luft schnappend. „Mutters beste Hose. Große Klasse, was?“
„Ja, wunderbar, Reni.“
Christian musterte sie von oben bis unten. Reni war in diesem Frühjahr tatsächlich in die Höhe geschossen, dabei dünn geworden, fast mager. Die Haut spannte über den Backenknochen, und das helle Haar, jetzt im Sommer ziemlich kurz geschnitten, unterstrich noch mehr das Jungenhafte, das Reni oft hatte, im Gegensatz zu Erika, ihrer Freundin. Erika sah immer wie ein Mädel aus, auch in Reithosen, und sie war und blieb ein ganzes Mädel, während Reni von jeher lieber ein Junge gewesen wäre.
„Du, ich glaub, er erlaubt’s!“ stieß sie jetzt hervor. „Mutter sagte so was. Er hätte sich eine Überraschung ausgedacht. Und dabei schenkte sie mir die Hose. Geschenkt, nicht bloß geborgt, verstehst du?“
„Hm, das kann natürlich stimmen“, sagte Christian langsam. „Kann, Reni. Du bist ein ewiger Optimist. Immer denkst du, wenn Vater auch nur mit dem winzigsten Finger winkt ...“
„Ich weiß, ich weiß. Und du denkst immer, man muß von Anfang an immer das Schlimmste annehmen, um nicht enttäuscht zu werden“, antwortete Reni hitzig. „Ich kann mir nicht vorstellen, daß es noch schön auf der Welt ist, wenn man immer und ewig das Schlimmste annimmt.“
Dies war ein Streitpunkt, der oft zwischen ihnen erörtert wurde.
„Unsinn, ich sage nicht —“
„Du sagst —“
„Du läßt mich ja gar nicht zu Worte kommen —“
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