»Waren Sie allein hier?«
»Ja. Mein Mann ist Nachtportier im Palace an den Champs-Élysées und kommt erst um acht Uhr morgens nach Hause.«
»Wo ist er im Augenblick?«
»In der Küche.«
Sie deutete auf eine geschlossene Tür.
»Er will sich ein bisschen ausruhen. Trotz allem muss er ja heute Abend wieder zur Arbeit.«
»Ich vermute, Chinquier hat Ihnen alle wesentlichen Fragen gestellt. Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, wenn ich selbst es noch einmal tue.«
»Brauchen Sie mich?«, fragte Chinquier.
»Im Augenblick nicht.«
»Dann werde ich kurz hinaufgehen.«
Maigret runzelte die Stirn, überlegte, wohin er wohl gehen wollte, fragte aber nicht nach, um den Inspektor nicht zu kränken.
»Entschuldigen Sie, Madame …«
»Madame Sauget. Die Mieter nennen mich Angèle.«
»Setzen Sie sich bitte.«
»Ach, ich bin es gewohnt, zu stehen.«
Sie zog den Vorhang zu, der tagsüber das Bett verbarg. Jetzt wirkte der Raum wie ein kleines Wohnzimmer.
»Kann ich Ihnen etwas anbieten? Eine Tasse Kaffee?«
»Nein, danke. Heute Nacht also haben Sie geschlafen, als …«
»Ja. Ich habe eine Stimme gehört. Man bat mich, die Tür zu öffnen.«
»Wissen Sie, wie spät es da war?«
»Mein Wecker hat Leuchtziffern. Zwanzig nach zwei.«
»Handelte es sich um einen Ihrer Mieter, der rauswollte?«
»Nein. Es war der Herr …«
Sie machte ein verlegenes Gesicht, wie jemand, den man zu einer Indiskretion zwingt.
»Welcher Herr?«
»Der, auf den geschossen wurde.«
Maigret und Lapointe blickten sich verblüfft an.
»Sie meinen Inspektor Lognon?«
Sie nickte und sagte:
»Man muss der Polizei alles sagen, nicht wahr? Eigentlich spreche ich nicht über meine Mieter, über das, was sie tun, oder darüber, wer sie besucht. Ihr Privatleben geht mich nichts an. Aber nach dem, was geschehen ist …«
»Kennen Sie den Inspektor schon lange?«
»Ja, seit Jahren, seit wir hier wohnen, mein Mann und ich … Aber ich kannte seinen Namen nicht … Ich wusste, dass er von der Polizei ist, denn er war mehrmals bei mir in der Loge gewesen, um die Identität von irgendwelchen Leuten zu überprüfen … Er war nicht gerade gesprächig …«
»Wann haben Sie ihn näher kennengelernt?«
»Als er begonnen hat, mit dem Fräulein im vierten Stock zu verkehren …«
Diesmal verschlug es Maigret die Sprache, und auch Lapointe konnte das kaum fassen. Polizisten sind nicht unbedingt Heilige, Maigret wusste sehr wohl, dass es auch bei der Kriminalpolizei so mancher mit der ehelichen Treue nicht sehr genau nahm.
Aber Lognon! Dass Inspektor Griesgram mitten in der Nacht eine junge Frau besuchte, kaum zweihundert Meter von seiner eigenen Wohnung entfernt!
»Sind Sie sicher, dass es sich um denselben Mann handelte?«
»Den kann man ja wohl kaum verwechseln!«
»Geht das schon lange so, dass er … diese Person besucht?«
»Seit zwei Wochen etwa.«
»Er ist also eines Abends mit ihr hinaufgegangen?«
»Ja.«
»Hat er sein Gesicht verborgen, als er an der Loge vorbeikam?«
»So wirkte es zumindest.«
»War er oft da?«
»Fast jeden Abend.«
»Ging er sehr spät wieder weg?«
»Anfangs, ich meine, in den ersten drei oder vier Tagen, ging er kurz nach Mitternacht … Dann ist er länger geblieben, bis zwei oder drei Uhr morgens …«
»Wie heißt diese Frau?«
»Marinette … Marinette Augier. Ein hübsches Mädchen, fünfundzwanzig Jahre alt, gut erzogen.«
»Hat sie häufig Männerbesuch?«
»Ich glaube, ich kann die Frage beantworten, denn sie hat nie ein Hehl daraus gemacht … Ein Jahr lang hat sie zwei- oder dreimal die Woche einen attraktiven jungen Mann empfangen, ihr Verlobter, wie sie mir sagte …«
»Blieb er über Nacht?«
»Sie werden es ja doch erfahren … Ja … Als er nicht mehr gekommen ist, wirkte sie traurig. Eines Morgens, als sie die Post holte, habe ich sie gefragt, ob sie die Verlobung gelöst hätten, und sie hat mir geantwortet:
›Ach, meine gute Angèle, sprechen wir nicht mehr darüber. Die Männer sind es nicht wert, dass man sich ihretwegen den Kopf zerbricht …‹
Sie scheint ihm aber nicht lange nachgetrauert zu haben, denn bald war sie wieder ganz vergnügt … Sie ist ein sehr fröhliches, gesundes Mädchen …«
»Arbeitet sie?«
»Sie ist Kosmetikerin in einem Schönheitssalon in der Avenue Matignon, wie sie mir gesagt hat. Das erklärt, warum sie immer so gepflegt ist und so geschmackvoll gekleidet.«
»Und ihr Freund?«
»Der Verlobte, der nicht wiedergekommen ist? Er war etwa dreißig Jahre alt. Ich weiß aber nicht, was für einen Beruf er hatte. Ich kenne nur seinen Vornamen. Für mich war er Monsieur Henri. Diesen Namen nannte er, wenn er nachts an der Loge vorbeiging.«
»Wann haben sich die beiden getrennt?«
»Im letzten Winter kurz vor Weihnachten.«
»Und danach hat dieses Fräulein also … Wie heißt sie? Marinette?«
»Marinette Augier.«
»Danach hat dieses Fräulein also fast ein Jahr keinen Besuch mehr gehabt?«
»Nur von ihrem Bruder, hin und wieder. Er wohnt mit seiner Frau in einem Vorort und hat drei Kinder.«
»Und vor etwa zwei Wochen ist sie dann abends in Begleitung von Inspektor Lognon nach Hause gekommen?«
»Wie gesagt …«
»Und seither ist er jeden Tag hergekommen?«
»Außer sonntags, zumindest habe ich ihn da weder rein- noch rausgehen sehen.«
»Tagsüber kam er nie?«
»Nein. Aber da fällt mir etwas ein. Eines Abends, als er wie gewöhnlich gegen neun Uhr kam, bin ich ihm hinterher, ehe er die Treppe hinaufging, und habe gesagt:
›Marinette ist nicht zu Hause.‹
›Ich weiß‹, hat er geantwortet. ›Sie ist bei ihrem Bruder.‹
Er ist dennoch hoch, ohne zu erklären, warum. Daraus habe ich geschlossen, dass sie ihm den Schlüssel gegeben hatte.«
Jetzt verstand Maigret, warum Inspektor Chinquier nach oben gegangen war.
»Ist Ihre Mieterin zu Hause?«
»Nein.«
»Ist sie bei der Arbeit?«
»Das weiß ich nicht, aber als ich ihr schonend beibringen wollte, was passiert ist …«
»Wann?«
»Nachdem ich die Polizei gerufen hatte.«
»Also noch vor drei Uhr morgens?«
»Ja. Ich habe mir gesagt, sie hat bestimmt die Schüsse gehört. Alle Mieter haben sie gehört. Manche lehnten sich zum Fenster hinaus, andere kamen im Morgenrock runter, um zu schauen, was da los war. Es war kein schöner Anblick, da unten auf dem Gehsteig … Ich bin also hoch und habe an ihre Tür geklopft … Niemand hat geantwortet … Da bin ich rein, aber die Wohnung war leer.«
Sie blickte den Kommissar mit einer gewissen Befriedigung an, als wollte sie sagen:
»Mag sein, dass Sie in Ihrer Laufbahn schon einiges erlebt haben, aber auf so etwas waren Sie nicht gefasst, geben Sie’s zu!«
Und das stimmte. Maigret und Lapointe konnten nur verwunderte Blicke wechseln.
Maigret dachte daran, dass seine Frau jetzt bei Madame Lognon war, die mit Vornamen Solange hieß, darum bemüht, sie zu trösten, und sicherlich dabei, die Wohnung aufzuräumen!
»Glauben Sie, dass sie das Haus gemeinsam mit ihm verlassen hat?«
»Nein, ganz sicher nicht. Ich habe gute Ohren. Da war nur eine Person, ein Mann …«
»Hat er Ihnen seinen Namen zugerufen?«
»Nein. Er sagte immer:
›Vierter Stock!‹
Ich kannte seine Stimme. Er war übrigens der Einzige, der das sagte.«
»Hätte sie vor ihm fortgehen können?«
»Nein. Ich habe letzte Nacht nur einmal die Tür geöffnet, um halb zwölf, für die Leute vom dritten Stock, die aus dem Kino zurückkamen.«
»Ist sie vielleicht weggegangen, nachdem sie die Schüsse gehört hatte?«
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