AMANDA LEDUC, geboren 1982 in British Columbia, studierte Kreatives Schreiben und Philosophie in Victoria (Kanada) und St. Andrews (Schottland). Sie schreibt Essays, Erzählungen und Romane. 2021 erscheint ihr Roman The Centaur’s Wife . Sie hat eine Zerebralparese und lebt in Hamilton, Ontario, wo sie für das Festival of Literary Diversity (FOLD) arbeitet, Kanadas erstes Literaturfestival für diverse Autor*innen und Geschichten.
JOSEFINE HAUBOLDstudierte Anglistik und Germanistik in Dresden und Berlin. Seit 2011 arbeitet sie als freie Lektorin und Übersetzerin aus dem Englischen, unter anderem übersetzte sie Bücher von Nellie Bly, Tennessee Williams und Hayley Long.
AMANDA LEDUC
ENTSTELLT ÜBER MÄRCHEN BEHINDERUNG UND TEILHABE
AUS DEM ENGLISCHEN ÜBERSETZT
VON JOSEFINE HAUBOLD
Die Originalausgabe des vorliegenden Buches erschien unter dem Titel Disfigured: on fairy tales, disability, and making space bei Coach House Books, Toronto.
© 2020 by Amanda Leduc
Der Verlag dankt dem Canada Council for the Arts für seine Unterstützung.
Verlag und Übersetzerin bedanken sich
bei Tanja Kollodzieyski für die Beratung.
Edition Nautilus GmbH
Schützenstraße 49 a
D - 22761 Hamburg
www.edition-nautilus.de
Alle Rechte vorbehalten
© Edition Nautilus 2020
Deutsche Erstausgabe März 2021
Umschlaggestaltung:
Maja Bechert, Hamburg
www.majabechert.de
Porträt der Autorin auf Seite 2:
© Trevor Cole
1. Auflage
E-Book-ISBN 978-3-96054-252-0
Für Dorothy, die mir den Weg in die Wälder zeigte;
Für Jael, die mir gezeigt hat, dass ich mutig genug war, ihm zu folgen;
Und für alle meine behinderten Brüder und Schwestern, die mich an die Hand nahmen, damit ich den Weg nicht alleine gehen musste .
Niemand sieht Sophokles’ Stück als Tragödie über einen Krüppel und einen Blinden, die um die Zukunft von Theben ringen.
– Tobin Siebers
Deine einstmals sanfte Stimme
wird dich verlassen, deine Beine
machen jeden Schritt an Land zur Folter.
Irgendwann vermisst du
den Tang und die Robben, dein altes Sein,
deinen alten Körper. Du passt nicht ans Land
noch ins Meer, dein Opfer liegt lange zurück.
Kämme dein Haar, das weiter wächst,
obwohl du den Prinzen verlorst.
Und du weißt, es kommt der Tag
da zahlst du den Preis
Für deine kurze Zeit an der Sonne.
– Jeannine Hall Gailey
Einleitung
1 Das Kind, dessen Kopf in Dunkelheit getaucht war
2 Behinderung: Ein Märchen
3 In alten Zeiten, als das Wünschen noch geholfen hat: Das Märchen in Frankreich und Deutschland
4 Eines Tages wird mein Prinz kommen: Disney und die Welt ohne Schatten
5 Der kleine stumme Findling: Hans Christian Andersens Hässliches Entlein
6 »Ein nichtmenschliches Wesen«: Das Schöne und das Bestialische
7 Die Wüstenei
8 Monster, Marvel und Wunderwesen
9 Der große Zusammenbruch
Nachwort
Anmerkungen
Bibliografie
Filmografie
Danksagungen
Die Idee zu diesem Buch kam mir passenderweise in einem Wald. Im Sommer 2018 hatte ich das außerordentliche Glück, für ein dreiwöchiges Aufenthaltsstipendium in Hedgebrook auf Whidbey Island vor der Küste von Seattle ausgewählt worden zu sein. Ich arbeitete gerade an einem Roman, und nach einem besonders anstrengenden Tag beschloss ich, auf der Suche nach etwas Aufmunterung in den Wald zu gehen. Neben der Eingangstür meiner Hütte lehnte ein Spazierstock, den ich ohne groß nachzudenken mitnahm, bevor ich mich zum hinteren Teil des Anwesens aufmachte. Irgendwo an seinem nördlichen Ende stand ein Brombeerstrauch, und ich konnte es kaum erwarten, dort ganze Hände voller Beeren zu sammeln.
Während ich so ging, dachte ich darüber nach, wie viel einfacher das Gehen mit dem Stock doch war: ein unbelebter Begleiter, der mir durch die Höhen und Senken des Waldes half. Selbst auf dem gepflasterten Boden in der Nähe meiner Unterkunft war er nützlich. Mit dem Stock in der Hand fühlte ich mich sicher. Er half mir, mein Gewicht beim Wechsel vom einen auf den anderen Fuß auszubalancieren, auf eine Weise, die ich aufregend und überraschend fand.
Heißt das, ich sollte im normalen Leben auch einen Stock benutzen? , fragte ich mich auf dem Weg zu den Brombeeren. Ob das wohl hilfreich wäre? Wie würde sich dadurch die Art verändern, wie ich mich durch die Welt bewege?
In meinem Alltag nutze ich keinen Gehstock. Ich habe eine leichte Zerebralparese und spastische Hemiplegie, und obwohl ich sichtbar hinke, war mein Gleichgewichtssinn in den ersten dreieinhalb Jahrzehnten meines Lebens gut genug, dass ich ohne Hilfsmittel gehen konnte.
Doch mein Blick ist beim Gehen auf den Boden gerichtet – eine Tatsache, die mir überhaupt erst bewusst wurde, als eine Podologin mich vor einigen Jahren darauf aufmerksam machte. Es brauchte noch einige weitere Jahre, bis mir klarwurde, dass ich deshalb auf den Boden sehe, weil er voller Gefahren ist, unberechenbar und launisch: Lücken zwischen Betonplatten, unebenes Pflaster, Risse im Bürgersteig. Wenn ich nicht ständig aufpasse, wohin ich meine Füße setze, ist es so gut wie sicher, dass ich irgendwann stürze.
Ein Stock , überlegte ich, wäre wahrscheinlich hilfreich .
Für viele von uns mit körperlichen Behinderungen kann der Wald ein gefährlicher Ort sein. Es ist aussichtslos, mit einem Rollstuhl zwischen die Bäume fahren zu wollen, wo es keinen deutlich markierten und planierten Weg gibt; selbst mit einem Blindenhund an der Seite ist die Navigation mitunter schwierig. Ich würde wetten, dass der Wald sogar denen Probleme bereitet, deren Behinderung oft als unsichtbar erachtet wird; ein finsterer Ort, voller Gerüche und sensorischer Angriffe, an dem sogar nichtbehinderte Menschen sich verlieren können.
Eine Prinzessin im Rollstuhl hätte wohl ihre Schwierigkeiten, die Brombeeren zu finden , dachte ich, während ich mich durchs Gebüsch schlug. Kurz hielt ich inne und musste lächeln. Eine Prinzessin im Rollstuhl? Wo gibt’s denn so was?
Doch als ich zum Brombeerstrauch durchgedrungen war, konnte ich an nichts anderes mehr denken als an die unbekannte Prinzessin in ihrem Rollstuhl. An die Prinzessin, an die sieben Zwerge, die Schneewittchen geholfen haben, und an Rumpelstilzchen. An die Hässlichkeit des Biests in ›Die Schöne und das Biest‹, an die böse Königin in ›Schneewittchen‹, die sich in eine bucklige Alte verwandelt, an den Prinzen, der erblindet, nachdem die Zauberin Rapunzel aus ihrem Turm entführt hat, an die Prinzessin, die in einen langen, verwunschenen Schlaf fällt. An die Hexe mit der Krücke in ›Hänsel und Gretel‹, an Aschenputtels Stiefschwestern, denen die Tauben die Augen auspicken, und an all die hässlichen Prinzen und Prinzessinnen, die dank ihrer List den Thron erobern und deren Schönheit sich schließlich offenbart oder ihnen geschenkt wird.
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