Ricardi wandte sich mürrisch um, erhob sich und trat mit fragender Geste auf den Mann zu. „Ja — also was ist mit ihr? Ich hörte, daß sie erschlagen wurde.”
Der Pfleger packte die Schlange aus. „Das ist sie jedenfalls nicht, nicht wahr?”
Der Doktor starrte die Schlange an. „Nein, natürlich nicht. Es war eine Todesotter. Dies ist eine ganz andere Gattung.”
„Deshalb bin ich gekommen, Herr Doktor. Dies ist das Tier, das als Todesotter herumgezeigt wurde, — als die in Ihrem Zimmer erschlagene Todesotter.
Ricardi erblaßte. „Aber das ist ja — — ich verstehe das nicht.”
„Mir ist es auch schleierhaft. Irgend etwas stimmt da doch nicht.”
„Nein. Gewiß nicht. — — Kommen Sie, kommen Sie! Das muß aufgeklärt werden. Wir wollen gleich zum Professor gehen.”
Mit diesen Worten zog Doktor Ricardi den Mann zur Tür hinaus.
Leona war an das Bett ihrer Freundin getreten. „Viola!” rief sie, „wach auf!”
Ihr war unheimlich zu Mute. Sie wußte, sie fühlte schon, daß ihr Rufen vergeblich war. Viola konnte sie nicht mehr hören. Sie lag steif und still, rührte sich nicht mehr — war tot.
In der ersten Aufregung wußte Leona nicht, was sie anfangen sollte. Tausend Gedanken berührten sie, drangen jedoch kaum bis zu ihrem Bewußtsein vor. Die furchtbare seelische Spannung, in die sie so unerwartet geraten war, löste sich endlich in einem markerschütternden Schrei.
Dunkel entsann sie sich, daß sich die Freundin ja gestern schon nicht ganz wohl gefühlt hatte. Viola hatte über starke Rückenschmerzen geklagt. Leona hatte ihr noch empfohlen, zum Arzt zu gehen. Daß sie jedoch jetzt tot sein sollte, erschien dem jungen Mädchen unfaßbar.
Nachdem sie sich einigermaßen gesammelt hatte, alarmierte sie die Bewohner der Villa. Von hier aus wurde der Arzt verständigt, der sofort kam.
Leona fragte ihn, als er den Totenschein ausgestellt hatte, wie es denn möglich sei, daß ihre Freundin so plötzlich sterben konnte.
Der Arzt blickte nachdenklich vor sich nieder. „Eigentlich”, sagte er, „war dieser Ausgang nicht zu erwarten. Gestern abend ist die Signorina noch bei mir gewesen. Sie hatte über Rückenschmerzen geklagt, auch schien sie mir etwas benommen zu sein. Es handelte sich um einen Grippeanfall, der meines Erachtens zu ernstlichen Besorgnissen keinerlei Anlaß gab. Ein tödlicher Ausgang kommt in derartigen Fällen, namentlich in einer so kurzen Zeitspanne, nur äußerst selten vor.”
„Aber hier ist er eingetreten! Haben Sie Viola genau untersucht?”
„Selbstverständlich. Eine Herzlähmung hat ihrem Leben ein Ende gemacht. — Hat Ihre Freundin Verwandte hier?”
„Nur einen Onkel. Das ist mein Chef, der Professor da Costa vom zoologischen Institut. Andere Verwandte besaß Viola nicht mehr. Ihre Eltern sind früh gestorben, Geschwister hatte sie keine. Sie stand eigentlich recht allein, bis sie sich vor zwei Tagen verlobte. Mein Gott — — und jetzt kommt es so!”
Der Doktor legte seine knochige Hand auf die Schulter des jungen Mädchens. „Sie sind ihre Freundin gewesen?”
„Ja. Von der Schule her schon. Wir haben wie Geschwister zusammen gelebt.”
Leona sank vor dem Lager nieder und brach in Tränen aus.
Die Herrschaften aus der Villa nahmen sich der Verzweifelten an. Leona suchte vergeblich zu begreifen, was geschehen war. Es lag wie ein Schleier vor ihren Augen. Viola tot? — Unfaßbar!
Der Onkel mußte benachrichtigt werden, fiel es ihr plötzlich ein. Alle Kräfte zusammenfassend, eilte isie selber zum Telefon.
„Herr Professor”, sagte Ricardi erregt, auf den Kadaver zeigend, „die Schlange ist keine Todesotter.”
Da Costa betrachtete das Tier. „Nein — allerdings nicht!” gab er zu.
„Es ist aber als solche bezeichnet und den Leuten herumgereicht worden.”
Der Professor starrte seinen Assistenten an, als glaube er nicht, was jener eben gesagt hatte. „Was — bei den Leuten — —? Ach so, das war dieses Tier?”
„Ganz recht. In meinem Kasten aber befand sich doch eine Todesotter. Hier liegt also eine Verwechslung vor.”
„Demnach müßte die Todesotter — — —”
„Jawohl, — die müßte demnach noch verschwunden sein. Und wie diese Schlange in meinen Raum kam, ist mir vollkommen unverständlich.”
„Woher haben Sie denn das Tier?”
„Der Hausmeister hat es dem Pfleger auf seine Bitte hin überlassen.”
Pucci bestätigte diese Worte mit einem Nicken des Kopfes. „Jawohl, — ich traf ihn, als er die Schlange auf den Müll werfen wollte.”
Da Costa ging erregt auf und ab, wobei er die Hände auf dem Rücken verschränkt hielt. „Das ist freilich merkwürdig”, sagte er nach einer längeren Pause. „Immerhin wollen wir das, was wir wissen, zunächst noch für uns behalten. Damit nicht im Hause eine neue Panik entsteht.”
Doktor Ricardi pflichtete dieser Meinung bei. Auch der Tierpfleger wurde angehalten, zunächst einmal niemandem etwas davon zu sagen.
Da Costa wandte sich wieder dem Assistenten zu. „Sie haben also bestimmt eine Todesotter in Ihrem Kasten gehabt?”
„Ja, Herr Professor. Ich weiß genau, was ich hatte.”
„Wäre es aber nicht möglich, daß Ihnen jemand einen Streich spielen wollte und das Tier gegen ein anderes ausgetauscht hat?”
Ricardi machte eine abwehrende Handbewegung. „Wer sollte so etwas tun? Allerdings haben wir genug Schlangen im Hause, aber — ich kann mir nicht vorstellen, daß mir jemand einen solchen Streich gespielt haben sollte.”
„Nein. Natürlich nicht. Aber es steht doch fest, daß diese Schlange in Ihrem Zimmer gefunden wurde.”
„Und wo befindet sich die, die wirklich in meinem Kasten war?”
„Das weiß ich nicht. Sicherlich hat doch ein Tausch stattgefunden. Darauf deuten ja schon die ganzen übrigen Tatsachen hin. Der Betreffende, der den Tausch vornahm, vergaß den Kasten richtig zu schließen, so daß die Schlange entweichen konnte. Der Mann ließ in seiner begreiflichen Eile sogar die Tür zum Laboratorium offen.”
Ricardi strich sich mit der flachen Hand über die Stirn, als ob er einen bösen Traum wegscheuchen wollte. „Mir kommt diese ganze Angelegenheit rätselhaft vor”, erwiderte er. „Wenn nun doch kein Tausch stattfand?”
Da Costa packte ihn an der Schulter. „Was wollen wir machen? Wir können bloß abwarten, bis sich die Angelegenheit vielleicht von selbst aufklärt. Es wäre doch sinnlos, auch das wieder an die große Glocke zu hängen. Im Gegenteil. Meiner Meinung nach muß diese neue Feststellung strengstens verschwiegen werden. Unter der Hand können wir natürlich weiterhin nachforschen. Aber ich bitte Sie, dies ganz im stillen zu tun.”
Bei dieser Abmachung blieb es.
Das Telefon klingelte. Der Professor meldete sich; er zuckte zusammen. „Wie, bitte? — — — Etwas geschehen? Etwas Schreckliches? Reden Sie doch, Signorina!”
„Es — es betrifft Ihre Nichte. Sie ist einem plötzlichen Grippeanfall erlegen. Als ich kam, um sie aufzusuchen, fand ich sie tot im Bett.”
Da Costa schwieg einen Augenblick. Er mußte erst zur Besinnung kommen. Dann rief er: „Ich mache mich sofort auf den Weg.”
Er steuerte seinen eleganten Wagen selbst und jagte in einem irrsinnigen Tempo nach Pegli hinaus.
Leona trat ihm in der Tür des Häuschens entgegen. Mit verweinten Augen begrüßte sie ihren Chef.
In sichtbarer Erschütterung trat da Costa an das Lager der Toten. Dann sprach er leise mit dem noch anwesenden Ehepaar, das die Villa bewohnte. Wie das nur möglich — und wie das gekommen sei? Gestern habe er seine Nichte doch noch in strahlender Frische gesehen!”
Eine Herzlähmung — sagte man ihm — habe Viola plötzlich dahingerafft. Gestern sei sie beim Arzt gewesen, weil sie von Schmerzen geplagt wurde. Mehr wußte man nicht.
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