Michael Martin - Unschuld 1
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Michael Martin
Unschuld 1
SAGA Egmont
Unschuld 1
Copyright © 1993, 2018 Michael Martin und Verlag
All rights reserved
ISBN: 9788711977309
1. Ebook-Auflage, 2018
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach
Absprache mit dem Verlag gestattet.
1
Meine Mutter kam in mein Zimmer. Und da war wieder dieser gequälte Blick; ich glaube fast, er ist ihr angeboren.
„Gute Nacht, Liebes“, meine Krankheit hatte ihre Stimme immer sanfter, immer leiser werden lassen, „fühlst du dich gut?“
Ich gab ihr keine Antwort, ich lag flach ausgestreckt unter der Decke, mein dünner Leib war ein einziger Protest gegen dieses Getue.
„Fühlst du dich gut, Liebes?“ wiederholte sie, und Sorge zitterte in ihrer Stimme.
„Ja“, sagte ich endlich ganz ruhig, das Ja mehr ein Seufzer als ein Wort; in Wirklichkeit war es ein Nein , ein lautes, ärgerliches Nein.
„Schlaf gut“, flehte sie und verließ geräuschlos das Zimmer.
In dieser Nacht wollte ich nicht nachdenken. Manchmal denke ich nach, aber dann entgehen mir die Geräusche in diesem Haus. Ich lag still, ganz still, bis ich ihr demütiges Klopfen an Vaters Türe hörte.
„Lieber“, rief sie, „darf ich für einen Moment hineinkommen?“
Zuerst gab er keine Antwort, dann antwortete er ebenso kurz wie ich vorhin, und ich wußte, ihre Finger waren jetzt an der Klinke seiner Tür, und das Schlurfen ihrer Hausschuhe bedeutete: „Vergib mir mein Eindringen.“ In ihrer Stimme war Schwermut, dabei war sie einmal ein fröhliches Mädchen gewesen.
Ich hörte die tiefe Stimme meines Vaters, und obgleich ich durch die Wand von ihnen getrennt war, hüpfte mein Herz, als ich den Ärger in seiner Stimme bemerkte. Sie blieb nur für eine Minute, ohne Zweifel erzählte sie ihm, mir ginge es gut und ich schliefe bald. Dann konnte ich hören, wie sie die Tür des kleinen angrenzenden Zimmers öffnete, welches vorher einmal ihr Ankleideraum gewesen war.
Vorher … Vorher und nachher; das war der Aspekt, unter dem wir alles betrachteten.
Vorher – das lebensuntüchtige Erbgut meiner Mutter, der faule Kern der Familie zeigte sich in meinem 13. Lebensjahr.
Es war ihre Krankheit, und mein Körper sank aufs Bett, ins Grab, und sanft zog ich sie mit mir. Als sich das Haus zur Ruhe begeben hatte, überließ ich mich meinen Träumereien, Träumereien voller Unwissenheit, „Unschuld“ sagt man dazu. Ich erinnere mich, es war vor drei Jahren, der Arzt stand an meinem Bett und sagte: „Sie ist ein Engel.“ Dabei berührte er mein glattes, weißblondes Haar. „Wir werden alles tun, um sie zu retten, Mrs. Ferdinand.“
Meine Mutter sagte voller Trauer: „Sie ist so jung und immer so hinfällig.“
Das war alles, was sie sagte. Mein Vater jedoch antwortete dem Arzt genauer.
„Mutter und Schwester meiner Frau“, sagte er voller Sarkasmus, ja Verachtung, „waren mit dem gleichen Leiden geschlagen.“
„Natürlich“, fügte er hinzu, „diese waren damals erheblich älter, während Adriane sich schon immer als besonders anfällig zeigte.“
Ich fühlte seine Hand auf meiner Stirn.
„Sie hat kein Fieber.“
„Nein“, der Arzt stimmte ihm zu, „dabei gibt es kaum Fieber. Aber sie muß eine lange Zeit vollkommen ruhig liegen. Wenn wir Glück haben, heilt die Ader. Sollte jedoch ein weiterer Anfall folgen – und ich muß Sie darauf hinweisen, daß dies immer im Bereich des Möglichen liegt – bleibt uns wenig zu tun.“
Meine Mutter verschluckte ihre Tränen, und mein Vater sagte mit milder Stimme:
„Margret, wenn du glaubst, daß dir Tränen Erleichterung verschaffen, tue dir keinen Zwang an“, und damit verließ er mit dem Arzt das Zimmer. Mutter saß noch eine lange Zeit an meinem Bett. Mir schienen es Tage zu sein. Ich schlief gelegentlich ein, und wenn ich erwachte, saß sie noch immer da, bis sich endlich der Schmerz wie ein Krebs auf ihrem Gesicht ausgebreitet und sich in ihren Augen eingenistet hatte.
2
Mein Vater ist schwach. Er ist viel schwächer als meine Mutter, denn er kann keine Schmerzen ertragen. Ich glaube, dies ist neben seiner Bequemlichkeit der andere Grund, warum er sie nicht verläßt. Ihm erscheint ihr Leiden rätselhaft. Ich bin sicher, er fürchtet, daß ein Fluch über unser Haus kommt, wenn sie es verläßt, dabei hat sie doch bereits einen Fluch über ihn gebracht: mich.
Meine Mutter und mein Vater kommen etwa aus gleich guten Verhältnissen. Mag er sie auch verachten, so gehört sie doch zu den wenigen Leuten, mit denen er glaubt, sprechen zu können, ohne sich gesellschaftlich etwas zu vergeben.
Die gleiche Einstellung vertritt er mir gegenüber. Nie gab mir mein Vater die Liebe, mit der Väter ihre Töchter verwöhnen. Dafür gab er mir Anerkennung: die unausgesprochene Versicherung, mich einzuladen, sollten wir ein Essen geben. Auch das Recht auf Bildung gestand er mir zu: Seine Bibliothek gehörte mir.
Interessant ist, wie man mir die Bücher bringt. Es wurde ein kleiner Wagen mit Rädern gebaut und jede Woche mit einer ganzen Regalreihe Bücher aus Vaters Bibliothek beladen. Marie rollte ihn dann an mein Bett. Die Bücher, die ich ständig bei mir haben will, stehen in einem Regal neben meinem Bett. Die Wahl meiner Bücher blieb mir überlassen. Ich glaube, niemand kontrollierte je, was ich las.
Ich lebe in meinen Büchern. Ebenso ist mir das Leben in diesem Haus genau gegenwärtig, und doch reicht das nicht aus. Tag für Tag versinke ich tiefer in den Zustand, den man Lethargie nennt.
Jeder in meiner Umgebung geht auf Zehenspitzen, nur mein Vater nicht. Er vergißt, daß seine Tochter stirbt. Die Köchin backt mir eine Extratorte, der Gärtner züchtet eine neue Rose, Adriane Gloria , und bringt sie mir ins Zimmer.
Zu meiner Beerdigung wird man das Haus mit ihnen schmücken, dessen bin ich gewiß.
Alle haben die törichte Idee, sie bringen mir das Leben, sie bringen mir das Haus. Wie soll ich es nur erklären? In diesem Haus kann ich tun, was immer ich will, während ich hier in meinem Bett liege. Und ich bin auch die einzige, die wirklich etwas will.
Im Haus herrscht die Atmosphäre meines nächtlichen Schlafes. Wenn ich mich besser fühle, öffnen sich Türen und Fenster; ist meine Nacht ruhelos, verschließt sich das Haus und wird mir zum Grab.
Ich liege jetzt im großen Gästezimmer. Alles ist Gold, die Decke, die Wände, der Boden. Ich erinnere mich an einen goldnen Wandteppich, den ich mir oft um die Schultern legte.
Ich wollte dann Papst sein.
Als ich krank wurde, bekam ich ein Zimmer im dritten Stock. Ein schrecklicher Ort. Er entsprach Mutters Vorstellung von einem Kinderzimmer, wie es sich ein Kind erträumt: überall Kattun und französische Puppen. Der Raum, in dem ich jetzt liege, entspricht viel eher meinem Geschmack.
Ich sagte meiner Mutter, ich wünschte mir nach meinem Tode einen Sarg, ganz mit Gold bedeckt und umsäumt. Sie war so bekümmert darüber, daß ich nicht weiter davon reden konnte, aber ich hatte den festen Willen, es durchzusetzen. Natürlich habe ich einen Willen, und ich habe sehr oft meine Meinung geändert.
Meine Großeltern hinterließen mir ein Vermögen. Irgendwie schienen sie gewußt zu haben, daß ich einmal hier im Bett liegen würde. Was mit meinem Geld geschieht, interessiert mich nicht, aber auf den goldnen Sarg werde ich immer bestehen. Meine Rose ist aus Gold. Gelb und rot und orange sind die Blütenblätter, und sie glühen in der Sonne.
Das Haus begann zu schlafen. Das Gesicht meiner Mutter entspannte sich vermutlich in ein mehr religiöses Leiden.
Mein Vater nahm seinen Schlaftrunk. Ich hörte, wie er das Glas schwer auf den Marmortisch neben seinem Bett niedersetzte.
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