DAVID BARRIE
Vom inneren Kompass der Tiere
Aus dem Englischen von Harald Stadler
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel
Incredible Journeys: Exploring the Wonders of Animal Navigation bei Hodder & Stoughton, London.
Copyright © David Barrie, 2019
Copyright der Abbildung auf S. 292:
© Kate Jeffery und Giulio Casali, 2018
© 2020 by mareverlag, Hamburg
Covergestaltung Nadja Zobel, Petra Koßmann, mareverlag
Coverabbildung The Woodbine Workshop
Typografie (Hardcover) mareverlag, Hamburg
Datenkonvertierung E-Book Bookwire
ISBN E-Book: 978-3-86648-389-7
ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-282-1
www.mare.de
_ _ _ Für Mary
Vorwort
TEIL INavigieren ohne Karten
1.Mr. Steadman und der Monarchfalter
2.Jim Lovells magischer Teppich
3.Im dunkelsten Dickicht
4.Von Wüstenkriegen und Ameisen
5.Tanzende Bienen
6.Koppelnavigation
7.Das Rennpferd der Insektenwelt
8.Navigieren nach der Gestalt des Himmels
9.Wie Vögel rechtweisend Nord finden
10.Himmlische Mistkäfer
11.Der Nase nach
12.Können Vögel ihren Heimweg riechen?
13.Schallnavigation
14.Der Erdmagnetismus
15.Wie also orientiert sich der Monarchfalter?
16.Die Gammaeule
17.Der Dunkle Lord der Schneeberge
TEIL II Der Heilige Gral
18.Navigation mit Karte und Kompass
19.Können Vögel Längengrade bestimmen?
20.Die geheimnisvolle Navigation der Meeresschildkröten
21.Abenteuer in Costa Rica
22.Ein Licht im Dunkel
23.Das große Rätsel des Magnetismus
24.Die Seepferdchen in unseren Köpfen
25.Das menschliche Gehirn als Navigator
TEIL III Warum ist Orientierung essenziell?
26.Die Sprache der Erde
27.Schlussfolgerungen
ANHANG
Dank
Zitatnachweise
Auswahlbibliografie
Anmerkungen und Quellenverzeichnis
Register
Der Gegenstand existiert bereits seit der Erschaffung
der Welt, ist aber bisher nicht so erklärt worden,
dass seine innere Schönheit verstanden werden könnte.
Thomas Traherne (ca. 1636–1674)
Draußen vor meinem Fenster fliegt eine Krähe vorüber. Scheinbar zielstrebig verfolgt sie eine Mission, die nur ihr selbst bekannt ist. Eine Hummel sucht systematisch Blüten im Garten auf. Ein Schmetterling flattert flink über die Mauer, segelt wild umher, lässt sich kurz nieder und fliegt dann weiter. Eine Katze schleicht den Weg entlang und verschwindet im Gestrüpp, während hoch oben ein Flugzeug voller Passagiere zur Landung in Heathrow ansetzt.
Man muss sich nur umsehen. Überall sind Lebewesen aller Arten und Größen unterwegs, menschliche und tierische. Sie suchen vielleicht Nahrung oder einen Paarungspartner; möglicherweise wandern sie, um der Kälte des Winters oder der Hitze des Sommers zu entgehen; oder sie sind einfach auf dem Weg nach Hause. Einige unternehmen Reisen um den gesamten Erdball, andere hingegen ziehen lediglich in ihrer näheren Umgebung herum. Aber jedes einzelne Lebewesen – sei es die Küstenseeschwalbe, die von einem Ende der Welt zum anderen fliegt, oder die Wüstenameise, die mit einer toten Fliege zwischen den Kiefern zu ihrem Nest zurückeilt – muss seinen Weg finden können. Es ist schlichtweg eine Frage des Überlebens.
Wie peilt eine Wespe nach einem Jagdausflug ihr Nest an? Wie bringt es ein Mistkäfer fertig, seine Kugel in einer geraden Linie zu rollen? Welcher geheimnisvolle Sinn führt eine Meeresschildkröte nach dem Durchkreisen eines ganzen Ozeans an die Küste zurück, an der sie zur Welt kam, um dort ihre Eier abzulegen? Wie meistert eine Taube ihren Heimweg, wenn sie Hunderte Kilometer von ihrem Schlag entfernt – an einem ihr unbekannten Ort – freigelassen wird? Und wie steht es mit den Naturvölkern, die in einigen Teilen der Welt immer noch lange und schwierige Reisen zu Wasser wie zu Land bewältigen, ohne Karte oder Kompass, ganz zu schweigen von GPS? 1
Die erste Frage, mit der ich mich in diesem Buch befassen möchte, ist ganz einfach: Wie finden sich Lebewesen – Tiere wie auch der Mensch – überhaupt zurecht? Wie wir feststellen werden, sind die Antworten für sich gesehen faszinierend, doch sie werfen weitere Fragen auf, die unser sich wandelndes Verhältnis zur Umwelt berühren. Wir Menschen werfen die grundlegenden Orientierungsfähigkeiten über Bord, auf die wir uns so lange verlassen konnten. Heutzutage können wir unseren Standort überall auf der Erde mühelos und präzise bestimmen, ohne überhaupt nachzudenken, einfach per Knopfdruck. Doch ist diese Tatsache überhaupt der Rede wert? Das lässt sich noch nicht eindeutig beantworten, aber in den Schlusskapiteln werde ich die wichtigen Punkte erörtern, die auf dem Spiel stehen.
Einleitend sollen ein paar Worte über Orientierungsprobleme im Alltag näher an das Thema heranführen. Überlegen wir für einen Moment, wie wir vorgehen, wenn wir in einer fremden Stadt ankommen.
Die erste Orientierungsaufgabe besteht darin, den Weg vom Flugzeug durch die Passkontrolle zur Gepäckausgabe zu finden. Selbst diese Art von Orientierung in Innenräumen kann Probleme bereiten, besonders wenn die Sehfähigkeit eingeschränkt ist, doch für gewöhnlich lassen sich diese Hindernisse überwinden, indem man Schildern und Zeichen folgt. Sobald man im Taxi oder Bus sitzt, kann man sich entspannen und die Entscheidungen dem Fahrer überlassen.
Bei der Ankunft im Hotel muss man die Rezeption und das Zimmer finden; auch hier sind Schilder und Zeichen eine große Hilfe. Am nächsten Morgen wollen Sie die nähere Umgebung vielleicht zu Fuß erkunden. Die verführerische Stimme der GPS-App Ihres Smartphones könnte Ihnen eine genaue Wegbeschreibung liefern, doch das ist keine echte Navigation; man befolgt bloß Anweisungen.
Wer eigenständig denkt und handelt und sich lieber selbst orientiert, greift vermutlich zu einem gedruckten Stadtplan. Als erste praktische Aufgabe gilt es, den Standort des Hotels und somit die eigene Position auf der Karte zu bestimmen. Als Nächstes muss man die Sehenswürdigkeiten einkreisen, die man besichtigen will, und herausfinden, wie man dorthin gelangt und wie lange es dauert. Das heißt, Sie müssen Entfernungen berechnen und Ihre voraussichtliche Schrittgeschwindigkeit schätzen, wodurch die Messung von Zeit ins Spiel kommt. Auch wenn es anfangs nicht offensichtlich scheinen mag: Navigation hat ebenso viel mit Zeit zu tun wie mit Raum.
Damit ist die Vorausplanung abgeschlossen. Nun stehen Sie vor einem weiteren Problem: Müssen Sie, wenn Sie vom Hotel aufbrechen, nach rechts oder nach links gehen? Bevor Sie sich auf den Weg machen, sollten Sie die richtige Richtung kennen. Es gibt mehrere Möglichkeiten, dieses zentrale Problem zu lösen. Sie können den Kompass in Ihrem Smartphone nutzen, aber Sie könnten sich auch orientieren, indem Sie herausfinden, auf welcher Straße Sie stehen. Es mag auch hilfreich sein, nach dem Fall der Schatten den Stand der Sonne zu ermitteln. Und wenn Sie dann losmarschiert sind, müssen Sie sich immer wieder Ihrer Route versichern, indem Sie markante Punkte und Straßennamen mit dem Stadtplan abgleichen.
Mit jedem weiteren Ausflug gewinnen Sie ein klareres Bild vom Grundriss der Stadt und erkennen, wie die jeweiligen Viertel miteinander verbunden sind; und zwar, indem Sie sich markante Punkte einprägen und sie geometrisch miteinander in Beziehung setzen. Natürlich können sich manche Menschen viel besser orientieren als andere, aber wer in dieser Art von Wegfindung geübt ist, entwickelt schon bald das Selbstvertrauen, längere und kompliziertere Ausflüge zu unternehmen, ohne überhaupt auf den Stadtplan zu schauen. Und anstatt sich nur im näheren Umkreis des Hotels zu bewegen, wählen Sie bald schon Routen durch ganz verschiedene Teile der Stadt. Mittlerweile haben Sie sich einen mentalen Plan der Stadt angeeignet.
Читать дальше