Dann bemerkte er es.
Zhu stand auf und ging zu dem Schreibtisch, der dem Fenster am nächsten war. Er schob die verstaubten Notizbücher und einen Bleistiftspitzer zur Seite und nahm ein verblichenes Foto in die Hand, das an der Wand geklebt hatte. Darauf war ein dümmlich grinsender Zwölfjähriger zu sehen, neben dem zwei etwas jüngere Mädchen standen. Alle drei trugen Schuluniform. Der Junge und eines der beiden Mädchen hätten Zwillinge sein können. Das andere Mädchen hatte ein ovales Gesicht und große, auffällige Augen. Ohne ihr schiefes Grinsen wäre sie hübsch gewesen. Vielleicht, dachte Zhu, war sie trotz dieses Lächelns hübsch.
Das spielte keine Rolle mehr. Das waren Geister, die nur noch in der Vergangenheit lebten. Nur die Zukunft war noch wichtig. Auf die Rückseite des Fotos hatte jemand mit schwarzem Filzstift geschrieben: Ahui und Meili und mein nerviger Bruder. Abschlussfeier der Grundschule. 10 Jahre alt .
Zhu warf das Foto auf den Schreibtisch und verließ das Zimmer. Ein Teil von ihm hätte es am liebsten mitgenommen. Er besaß kein anderes Foto seiner Schwester. Doch ein anderer, stärkerer Teil konnte mit den Schuldgefühlen, die an ihm nagten, wenn er das Foto betrachtete, nicht umgehen. Also ließ er es dort zurück, wo es hingehörte: in der Vergangenheit. Tränen stiegen ihm in die Augen und er wandte sich rasch dem Bad zu.
Ein heftiger Todesgestank stieg ihm sofort in die Nase, als er die Tür öffnete. Eine beinahe skelettierte Gestalt stolperte aus der Dunkelheit auf ihn zu. Sie umklammerte den Arm, mit dem er die Tür geöffnet hatte, und hätte beinahe ein Stück herausgerissen. Der völlig überraschte Zhu tastete nach seiner Machete, verlor das Gleichgewicht und stolperte zurück. Die Gestalt musste schon vor ihrem Tod alt gewesen sein.
Instinktiv versetzte er ihr einen Faustschlag, der sie zu Boden warf. Zhu schüttelte seine schmerzende Hand aus und hob seine Machete auf. Auf Knochen einzuschlagen war nicht gerade angenehm. Verärgert stapfte er zu dem am Boden liegenden jiāngshī und trat den Arm zur Seite, der nach ihm greifen wollte. Er wollte mit der Machete ausholen … und zögerte.
Der Moment des Erkennens lähmte seine Hand. Vielleicht lag es an den ausgefransten Zöpfen oder dem Funkeln der Goldzähne. An etwas, das sein Verstand nicht richtig verarbeiten konnte. Bevor seine Fantasie mit ihm durchgehen konnte, schwang er die Machete und spaltete den Schädel des jiāngshī . Ein Stöhnen kam ihm über die Lippen, als ihn das kalte Entsetzen darüber traf, was er getan hatte. Schuldgefühle und Wut gesellten sich dazu. Zhu hob die Machete und schlug zu, bis der jiāngshī sich nicht mehr regte.
Der Zorn und das Adrenalin verließen seinen Körper und er blieb erschöpft zurück. Ein Schaudern überkam ihn, als er die vertrocknete, ausgezehrte und selbst für jiāngshī- Verhältnisse jämmerliche Leiche betrachtete. Es gab keinen Zweifel. Das war seine neunundneunzigjährige Urgroßmutter, die man zum Sterben allein zurückgelassen hatte. Ihre letzten Momente mussten furchtbar gewesen sein. Der Gedanke verzehrte Zhu innerlich. Die Entscheidung war seiner Familie bestimmt nicht leichtgefallen. Er hatte nicht das Recht, wütend auf sie zu sein oder über sie zu urteilen. Er war nicht dabei gewesen. Vieles wäre anders verlaufen, wenn er da gewesen wäre. Vielleicht hätte er sie retten können. Vielleicht würden alle noch leben, wenn er nicht weggeblieben wäre. Ein ersticktes Zischen kam ihm über die Lippen. Er stürmte aus dem Bad und zurück ins Wohnzimmer.
Mittlerweile brannte im Ofen ein kleines Feuer und die Wärme vertrieb die klamme Luft. Elena, die im Feuer herumstocherte, sah verwundert auf. »Alles in Ordnung?«
Er versuchte, die Tränen zurückzuhalten, die ihm in die Augen stiegen. »Ich brauche frische Luft.«
»Hey, xiăodì «, sagte Bo aufgeregt und präsentierte einen halb leeren Styroporbehälter, in dem einige ovale schwarze Dinger lagen. Er war stolz, als wäre er auf Gold gestoßen. »Ich habe Hundertjährige Eier gefunden. Das wird heute Abend ein Festmahl.«
Zhu antwortete nicht, sondern trat auf den Balkon, von dem aus man den Yuanjiang sehen konnte.
»Habe ich was Falsches gesagt?«, fragte Bo.
Zhu beugte sich über das Balkongeländer und betrachtete das gegenüberliegende Ufer. Es roch nach Fisch und Algen und feuchter Fäulnis. Eine aufgedunsene Leiche trieb an einigen Gänsen vorbei. Ihr folgte eine weitere und dann ein ganzes Dutzend, das von Trümmern begleitet wurde. Er verschwendete kaum einen Gedanken an den grausigen Anblick. Wahrscheinlich war ein Boot untergegangen. So etwas kam auf Flüssen immer mal vor.
Elena gesellte sich einige Sekunden später zu ihm. Sie legte ihren Arm um seine Hüften und lehnte sich an ihn. »Hey, ist alles in Ordnung? Du bist schon den ganzen Tag so nervös.«
Zhu zog sie zu sich und atmete ein. Sie roch so, wie man nun einmal roch, wenn man seit Wochen durch Schlamm und Müll und Wildnis zog. Nach Schweiß und Dreck und ehrlich gesagt, auch ein wenig nach Kot. Doch unter all dem roch Zhu auch sie. Das war wunderbar. Er drückte sie. »Ich bin nur besorgt, weil wir so weit in einen Ort vorgedrungen sind.«
»Das hast du mir als erste Überlebensregel beigebracht«, rief sie ihm ins Gedächtnis. »Halte dich von Bevölkerungszentren fern. Es überrascht mich, dass du diese Idee hattest.«
»Wir hatten keine Wahl«, erwiderte er. »Wir haben unsere Quote seit Wochen nicht erfüllt. Wir brauchen gute Beute.«
»Aber so weit draußen? Woher wusstest du überhaupt von diesem Goldtopf am Ende des Regenbogens?«
Zhu war sich nicht sicher, was das bedeutete. Elenas amerikanische Redewendungen ließen sich nicht immer in Mandarin übersetzen. Aber das machte einen Teil ihres Charmes aus. Er reckte die Nase in die Luft. »Hier riecht es nach faulen Eiern.«
»Bo hat ein mit Pech gestrichenes Regal zerschlagen, damit wir Feuerholz haben. Wir kochen gerade das Abendessen«, antwortete sie. »Dieser Ofen ist uralt. Der könnte noch aus der Ming-Dynastie stammen.«
Er seufzte. »Gibt es sonst noch was zu essen?«
Elena nahm einen vornehmen, aber schlechten britischen Akzent an, der sie wie eine Mischung aus einem Singapurer und einem amerikanischen Cowboy klingen ließ. »Als Vorspeise servieren wir heute abgestandenes Wasser mit einem Hauch Chlor aus der Flasche. Als Hauptgang haben wir Klebreis mit Erdnüssen in getrockneten Bananenblättern. Und zum Dessert gibt es eine große Durian, die du dir mit Bo teilen kannst.« Sie hielt inne. »Und wir haben auch noch diese ekligen Eier, die Bo gefunden hat.«
Zhu verzog das Gesicht. »Das ist ein schreckliches Menü. Ich möchte mit Ihrem Vorgesetzten sprechen.«
»Selbstverständlich, Sir. Sie können Ihre Beschwerde hier hinterlassen.« Sie zeigte ihm den Mittelfinger und streckte dann den kleinen Finger aus, die chinesische Geste. Anschließend grinste sie. »Aber mal ernsthaft, sobald wir unsere Quote erfüllt haben, werde ich mir von den Punkten, die wir dann bekommen, echtes Obst kaufen.«
»Durian ist echtes Obst.«
»Darüber lässt sich streiten.« Sie zeigte zum Horizont. »Es kommt Nebel auf. Wenn der bis morgen nicht weg ist, sitzen wir in diesem Dorf fest. Jedenfalls sollten wir uns bei dem Wetter nicht draußen umsehen.«
»Der Nebel wird morgen früh weg sein.«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich weiß es«, erwiderte Zhu mit Gewissheit. Er drehte den Kopf und warf einen Blick ins Wohnzimmer. »Was macht Bo da drin?«
»Er liest in seinen Büchern.«
Bo war als Einziger im Team vor dem Zusammenbruch so arm gewesen, dass er sich keine elektronischen Geräte hatte leisten können. Zhu hatte eine einfache Kamera und einen MP3-Player mit Musik dabei und Elena besaß praktisch alles: eine Kamera, ein Handy, einen MP3-Player und einen dieser schicken tragbaren DVD-Player. Bo besaß nur Bücher. Auf der einen Seite war das gut, weil er nie Punkte für das Aufladen seiner Geräte ausgeben musste. Auf der anderen Seite war er oft gezwungen, die wenigen Bücher, die er besaß, mehrfach zu lesen. Außerdem hatte Zhu ihm ausdrücklich verboten, mehr als ein Buch auf ihre Beutezüge mitzunehmen.
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