»Jeden Morgen sind sie zum Angeln an den Fluss gegangen.«
Bo zeigte auf einen dritten jiāngshī , der ein Stück hinter ihnen gerade in die Straße einbog. »Vielleicht ist er der Großvater. Was glaubst du, wie er heißt?«
Elena presste die Lippen aufeinander. »Er sieht wie ein …«
»Das reicht«, unterbrach sie Zhu. »Es ist nicht mehr lange hell.« Obwohl er alles tolerierte, was sie von der Realität ablenkte, gefiel ihm dieses Spiel nicht. Den Toten Namen zu geben machte ihre Arbeit nur unnötig schwerer. So ein Blödsinn konnte einen von ihnen das Leben kosten.
Zhu zeigte auf den kleinen jiāngshī . »Elena, du erschießt den links. Ich kümmere mich um die rechts.« Er warf einen Blick auf den dritten jiāngshī . »Bo, du holst dir den yéye .«
Elena und Bo machten sich an die Arbeit. Bo kroch über das Dach zu dem jiāngshī , der ihm zugewiesen worden war, während Elena ihren Bogen spannte. Alle drei ließen sich gleichzeitig von den Dächern fallen. Elena fand ihr Gleichgewicht erst nach einem Moment wieder und verlagerte ihr Gewicht auf ein Bein, als sie wieder auf die Füße kam. Die Straße war steil und das Kopfsteinpflaster uneben. Zhu wartete nicht auf sie, sondern stürzte sich auf die beiden jiāngshī .
Er wollte Maribelle gerade die Machete in den Nacken stoßen, als ein Pfeil über seine Schulter raste und sich in ihren Kopf bohrte. Maribelle sackte zusammen, als der Untod aus ihr wich. Zhu wechselte rasch das Ziel, wandte sich der kleineren Gestalt zu und schlug dem armen kleinen Bobby schwungvoll den Kopf ab.
Er sah Elena verärgert an und schlug sich auf den rechten Arm. »Das ist rechts.«
»Tut mir leid«, murmelte sie und senkte den Bogen. »Ich hab das wieder verwechselt.«
Zhu nickte, fragte sich aber, ob das wirklich stimmte. Wahrscheinlicher war, dass sie den kleinen Jungen nicht hatte erschießen wollen. Elena war in dieser Hinsicht sensibel. Das war verständlich, aber Empathie für etwas zu entwickeln, das man töten musste, war auch gefährlich. Diese Lektion hatte er schon als kleines Kind gelernt, als er den Hühnern, die seine Familie hielt, Namen gegeben hatte. Der Tag, an dem sein yéye zwei seiner Lieblingshennen am Hals gepackt und in die Küche mitgenommen hatte, war einer der traumatischsten seines Lebens gewesen.
Zhu ließ es auf sich beruhen. »Wir üben das später noch mal. Was macht dein Bein?«
»Ich bin nur umgeknickt. Alles in Ordnung.«
Als er einen Blick zurückwarf, sah er, wie Bos Vorschlaghammer den Schädel des dritten jiāngshī wie eine Melone zerplatzen ließ. Fleisch und Knochen klatschten gegen die Mauer dahinter. Der kräftige Mann nahm sofort einen Lappen und wischte seinen Hammer sorgfältig ab.
Bo kam nur einen Moment später zu ihnen und betrachtete das Ergebnis ihrer Arbeit. Er wirkte niedergeschlagen. »Ich hoffe, dass es im Himmel Mondkuchen gibt, kleiner Bobby.«
Das Windteam verließ rasch die Hauptstraße und lief die gewundene Nebenstraße entlang. Zhu behielt Elena im Auge, die versuchte, trotz ihres verletzten Beins mitzuhalten. Der Straßenbelag bestand aus unterschiedlich großen Steinen, die man wie ein riesiges Puzzle zusammengefügt hatte und die sich über die Jahrhunderte hinweg abgenutzt hatten, sodass der Untergrund nun rau und uneben war. Die einstöckigen Häuser, die die Straße säumten, waren aus Holz, Stein und Beton zusammengewürfelt und die verschiedenen Schichten hatten den Häusern den Stempel ihrer jeweiligen Zeit aufgedrückt. Die Dächer waren niedrig und ragten weit über die Häuser hinaus, sodass vom Himmel nur ein schmaler Streifen in der Mitte der Straße übrig blieb.
Während sie kleinen jiāngshī -Gruppen auswichen, suchte Zhu nach einer Möglichkeit, auf die Dächer zurückzukehren. In einem Dorf wurde es auf dem Boden schon nach wenigen Sekunden gefährlich. Außerdem waren sie ein Windteam: Sie gehörten nach oben, an einen Ort, an dem sie sich so lautlos und sicher bewegen konnten wie die Brise, die über ihnen wehte. Zum Glück befanden sie sich am Dorfrand, sonst wäre der Sprung vom Dach Selbstmord gewesen. Die untergehende Sonne warf zunehmend längere Schatten. Sie würden bald Schutz suchen müssen.
Die Straße selbst war überraschend sauber und leer, wenn man bedachte, dass sie wahrscheinlich seit vielen Monaten nicht mehr gereinigt worden war. Das lag vermutlich an der Regenzeit, die seit einigen Wochen einen Großteil der Provinz durchnässte. Eine leichte Brise wehte von Norden heran, wirbelte Nebelschwaden auf und kitzelte die Härchen in Zhus Nacken. Der Wind brachte zwar einen schwachen Verwesungsgeruch mit sich, aber auch die Frische des Frühlings und die winzige Hoffnung auf neues Leben.
Zhu wies sein Team mit einer Geste an, dicht zusammenzubleiben. Sie eilten die Straße zur Hälfte hinunter und bogen dann in eine Gasse ein, die so schmal war, dass zwei Menschen kaum aneinander vorbeipassten. Ein jiāngshī , der ihm den Rücken zugewandt hatte, drehte sich um und streckte den Arm aus. Er konnte gerade noch ein Knurren ausstoßen, bevor Zhus Tritt seine Brust traf und ihn in einen Müllhaufen warf. Zhu stieß ihm die Machete in die Augenhöhle und lief, ohne langsamer zu werden, weiter durch die Gasse. Er bog nach links ab, nach rechts und blieb dann an einer Kreuzung stehen, um sich zu orientieren und sich zu vergewissern, dass sein Team noch bei ihm war. Elena war nur einen Schritt hinter ihm und Bo tauchte einige Sekunden später schwer atmend auf.
»Es ist fast dunkel«, sagte Elena, während ihr Blick über die beiden Straßen glitt, zwischen denen sie sich entscheiden mussten. »Bist du sicher, dass du den Weg kennst?«
Eine der Straßen wurde von Kisten und einem umgeworfenen Ochsenkarren blockiert. Davor lag ein Haufen Abfall, um den herum sich eine Gruppe jiāngshī versammelt hatte. Also mussten sie die andere nehmen, doch die führte in die falsche Richtung. Außer …
Bo warf einen nervösen Blick auf die jiāngshī -Gruppe. »Wo lang, xiăodì ?« Der Kosename »kleiner Bruder« war streng genommen nicht ganz zutreffend. Der Altersunterschied war so groß, dass Bo fast Zhus Vater hätte sein können.
»Wir sind fast da.« Das war ein wenig geflunkert, denn Zhu wusste es nicht genau. Über die Jahre hatte sich viel verändert und der Zusammenbruch der Welt hatte dafür gesorgt, dass ihm nichts mehr vertraut erschien. Etwas in seiner Brust zog sich zusammen. Er hätte hier sein sollen.
Hastig lief er die freie Straße hinunter und sein Team hatte keine andere Wahl, als ihm zu folgen. Sie hatten die Straße zur Hälfte zurückgelegt, als er das fand, wonach er gesucht hatte. Er warf seine Machete auf das Blechdach eines Hühnerstalls und zog sich hoch. Elena und Bo waren dicht hinter ihm.
»Passt auf.« Er warf einen Blick über den Rand des Stalls, wo Balken das Dach stützten. Niemand wusste, wie viele jiāngshī sich in den Gebäuden unter ihnen aufhielten. Die drei liefen über das Labyrinth aus niedrigen und hohen Dächern und sprangen schließlich in einen von Mauern umgebenen Hinterhof. Dort steckten zwei jiāngshī im Schlamm eines Koiteichs fest. Sie hoben die Arme, als sie die Menschen bemerkten, stellten aber keine Gefahr dar. Das Team kletterte die Mauer auf der anderen Seite des Hofs hoch und balancierte vorsichtig über die Krone, bis es den Balkon im ersten Stock des Nachbarhauses erreichte. Einen kurzen Sprung später betraten die drei ein scheinbar verlassenes Wohnhaus.
Zhu legte seinen Seesack ab und schnüffelte. Zum Glück roch es kein bisschen nach Verwesung, doch er zögerte trotzdem an der Türschwelle, als ihn nostalgische Erinnerungen überkamen. »Hier sollten wir uns ausruhen können.« Es war gut, dass sie diese Nacht ein Dach über dem Kopf hatten. Er war sich nicht sicher gewesen, ob sie es vor Sonnenuntergang schaffen würden. Sie hatten drei Tage gebraucht, um das Dorf zu finden, und die nächste gelbe Fahne, die einen sicheren Ort markierte, war eine halbe Tagesreise entfernt.
Читать дальше