Er lief, denn es klingelte schon zum zweiten Akt: da stieß er mit der Schwiegermutter des Bürgermeisters zusammen, die es aus einem anderen Grund ebenso eilig hatte. Sie kam gerade noch rechtzeitig, um zu verhindern, daß ihr Schwiegersohn, gelenkt von seiner Frau, sich auf den alten Buck zu bewege und ihn mit seiner Autorität decke. „Mit deiner Autorität als Bürgermeister, einen solchen Skandal!“ Sie war heiser vor Aufregung. Die Frau aber mit ihrer grellen kleinen Stimme blieb dabei, die Bucks seien nun einmal die feinsten Leute hier, und noch gestern habe Milli Buck ihr ein fabelhaftes Schnittmuster gegeben. Mit versteckten Püffen trieb jede ihn nach ihrer Seite; er gab ihnen abwechselnd recht, seine blassen Bartkotelettes flohen nach links und nach rechts, und er hatte Augen wie ein Hase. Die Vorübergehenden stießen einander an und wiederholten flüsternd als einen Witz, was Diederich durch Wolfgang Buck wußte. Angesichts so wichtiger Vorgänge vergaß er seine Leibschmerzen, blieb stehen und beschrieb einen herausfordernden Gruß. Der Bürgermeister gab sich Haltung, verließ seine Damen, er streckte Diederich die Hand hin. „Mein lieber Doktor Heßling, es freut mich, das ist einmal ein gelungenes Fest, wie?“
Aber Diederich zeigte sich gar nicht geneigt, auf die nichtssagende Herzlichkeit einzugehen, die Doktor Scheffelweis so sehr liebte. Er richtete sich auf wie das Verhängnis und blitzte.
„Herr Bürgermeister, ich fühle mich nicht berechtigt, Sie im unklaren zu lassen über gewisse Dinge, die –“
„Die?“ fragte Doktor Scheffelweis, erbleicht.
„Die vorgehen“, sagte Diederich nicht ohne Härte. Der [pg 302]Bürgermeister bat um Erbarmen. „Ich weiß doch schon. Es ist die fatale Geschichte mit unserem allverehrten – ich wollte sagen, die Schweinerei des alten Buck“, flüsterte er vertraulich. Diederich blieb kalt.
„Es ist mehr. Sie dürfen sich nicht länger täuschen, Herr Bürgermeister: es betrifft Sie selbst.“
„Junger Mann, ich muß doch bitten ...“
„Ich stehe Ihnen zur Verfügung, Herr Bürgermeister!“
Doktor Scheffelweis irrte, wenn er hoffte, dieser Kelch sei durch Aufbegehren besser abzuwenden als durch Flehen! Er war in Diederichs Hand; die Spiegelgalerie hatte sich geleert, auch die beiden Damen verschwanden dahinten im Gedränge.
„Buck und Genossen führen einen Gegenschlag“, sagte Diederich sachlich. „Sie sind entlarvt und rächen sich.“
„An mir?“ Der Bürgermeister hüpfte auf.
„Verleumdungen, ich wiederhole: infame Verleumdungen werden gegen Sie gerichtet. Kein Mensch würde sie glauben, aber in diesen Zeiten der politischen Kämpfe –“
Er beendete nicht, sondern hob die Schultern. Doktor Scheffelweis war sichtlich kleiner geworden. Er wollte Diederich ansehen, irrte aber ab. Da bekam Diederich die Stimme des Gerichts.
„Herr Bürgermeister! Sie erinnern sich an unsere erste Unterredung in Ihrem Hause, mit Herrn Assessor Jadassohn. Ich habe Sie schon damals darauf vorbereitet, daß ein neuer Geist in die Stadt einziehen werde. Die schlappe demokratische Gesinnung hat abgewirtschaftet! Stramm national muß man heut sein! Sie waren gewarnt!“
Doktor Scheffelweis stand Rede.
„Ich war innerlich schon immer auf Ihrer Seite, lieber Freund: um so mehr, als ich ein besonderer Verehrer [pg 303]Seiner Majestät bin. Unser herrlicher junger Kaiser ist ein so origineller Denker ... impulsiv ... und ...“
„Die persönlichste Persönlichkeit“, ergänzte Diederich streng.
Der Bürgermeister sprach nach: „Persönlichkeit ... Aber ich in meiner Stellung, die nach beiden Seiten blickt, kann Ihnen auch heute nur wiederholen: Schaffen Sie neue Tatsachen!“
„Und mein Prozeß? Ich habe die Feinde Seiner Majestät glatt zerschmettert!“
„Ich habe Ihnen nichts in den Weg gelegt. Ich habe Sie sogar beglückwünscht.“
„Mir nicht bekannt.“
„Wenigstens im stillen.“
„Heute muß man sich offen entscheiden, Herr Bürgermeister. Seine Majestät haben es selbst gesagt: wer nicht für mich ist, ist wider mich! Unsere Bürger sollen endlich aus dem Schlummer erwachen und bei der Bekämpfung der umwälzenden Elemente selbst mit Hand anlegen!“
Hier schlug Doktor Scheffelweis die Augen nieder. Um so gebieterischer reckte sich Diederich.
„Wo aber bleibt der Bürgermeister?“ fragte er, und seine Frage klang in einer drohenden Stille so lange nach, bis Doktor Scheffelweis sich entschloß, ihn anzublinzeln. Zum Sprechen brachte er es nicht; Diederichs Erscheinung, blitzend, gesträubt und blond gedunsen, verschlug ihm die Rede. In fliegender Verwirrung dachte er: „Einerseits – andererseits“ – und blinzelte immerfort das Bild der neuen Jugend an, die wußte, was sie wollte, den Vertreter der harten Zeit, die nun kam!
Diederich, mit herabgezogenen Mundwinkeln, nahm die Huldigung entgegen. Er genoß einen der Augenblicke, [pg 304]in denen er mehr bedeutete als sich selbst, und im Geiste eines Höheren handelte. Der Bürgermeister war länger als er, aber Diederich sah auf ihn hinunter, als hätte er gethront. „Nächstens haben wir Stadtverordnetenwahlen: da kommt es nun ganz auf Sie an“, äußerte er gnädig und knapp. „Der Prozeß Lauer hat einen Umschwung der öffentlichen Meinung bewirkt. Die Leute haben Angst vor mir. Wer mir behilflich sein will, ist mir willkommen; wer sich mir entgegenstellt –“
Den Nachsatz wartete Doktor Scheffelweis nicht ab. „Ich bin ganz Ihrer Meinung,“ flüsterte er beflissen, „Freunde des Herrn Buck dürfen nicht mehr gewählt werden.“
„Das liegt in Ihrem eigensten Interesse. Bei den Schlechtgesinnten untergräbt man Ihren guten Ruf, Herr Bürgermeister! Könnten Sie es heute überleben, daß die Gutgesinnten den abscheulichen Verleumdungen nicht mehr widersprechen?“ Eine Pause, in der Doktor Scheffelweis zitterte; dann wiederholte Diederich, ermutigend: „Es kommt nur auf Sie an.“ – Der Bürgermeister murmelte: „Ihre Energie und anständige Gesinnung in Ehren –“
„Meine hochanständige Gesinnung!“
„Freilich ... Aber Sie sind ein politischer Heißsporn, mein junger Freund. Die Stadt ist noch nicht reif für Sie. Wie wollen Sie mit ihr fertig werden?“
Statt einer Antwort trat Diederich plötzlich zurück und machte einen Kratzfuß. Im Eingang stand Wulckow.
Er kam herbei unter elastischem Schwenken des Bauches, legte seine schwarze Tatze dem Doktor Scheffelweis auf die Schulter und sagte dröhnend: „Na, Bürgermeisterchen, so solo hier? Ihre Stadtverordneten haben Sie wohl hinausgeworfen?“ – worauf Doktor Scheffelweis bleich mitlachte. Aber Diederich sah sich heftig besorgt nach der Saaltür um, [pg 305]die noch offen stand. Er trat vor Wulckow hin, so daß der Präsident von drinnen nicht zu sehen war, und flüsterte ihm einige Worte zu, infolge deren der Präsident sich abwandte und seine Kleider ordnete. Dann sagte er zu Diederich: „Sie sind wirklich sehr brauchbar, Doktorchen.“
Diederich lächelte geschmeichelt. „Ihre Anerkennung, Herr Präsident, macht mich glücklich.“
Wulckow äußerte gnädig: „Sie können gewiß auch sonst noch allerlei. Wir müssen mal drüber reden.“ Er streckte den Kopf vor, braunfleckig, mit slawischen Backenknochen, und glotzte Diederich an aus den Mongolenfalten seiner Augen, die voll einer warmblütigen, schalkhaften Gewaltsamkeit waren: – glotzte, bis Diederich schnaufte. Dieser Erfolg schien Wulckow zu befriedigen. Er bürstete vor dem Spiegel seinen Bart, zerdrückte ihn aber sogleich wieder auf dem Frackhemd, weil er den Kopf wie ein Stier trug, und sagte: „Nu los! Der Klimbim ist wohl schon im Gange?“ Und in der Mitte zwischen Diederich und dem Bürgermeister schickte er sich an, mit Wucht die Vorstellung zu stören: da kam vom Büfett her eine dünne Stimme:
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