„Wer ist denn die schreckliche Person?“ fragte Diederich, bevor er es bedacht hatte. Frau von Wulckow war erstaunt.
„Es ist doch die komische Alte vom Stadttheater. Wir hatten sonst niemand für die Rolle; aber meine Nichte spielt ganz gern mit ihr.“
Und Diederich erschrak; mit der schrecklichen Person hatte er die Nichte gemeint. „Das Fräulein Nichte ist ganz reizend“, beteuerte er schnell und blinzelte entzückt nach dem dicken roten Gesicht, das gleich auf den Schultern saß – und es waren Wulckows Schultern! „Talent hat sie aber auch“, setzte er der Sicherheit wegen hinzu. Frau von Wulckow wisperte: „Passen Sie nur auf“ – und da kam aus der Kulisse Assessor Jadassohn. Welch eine Überraschung! Er hatte ganz neue Bügelfalten und trug in seinem imposant geschweiften Cutaway eine riesenhafte Plastronkrawatte mit einem roten Funkelstein von entsprechendem Umfang. Aber so sehr der Stein auch funkelte, Jadassohns Ohren überstrahlten ihn. Da sein Kopf frisch geschoren und sehr platt war, standen die Ohren frei heraus und beleuchteten wie zwei Lampen seine festliche Pracht. Er spreizte die gelb behandschuhten Hände, als plädierte er für viele Jahre Zuchthaus; und tatsächlich sagte er der Nichte, die geradezu konsterniert schien, und der heulenden komischen Alten die peinlichsten Dinge ... Frau von Wulckow wisperte: „Er ist ein schlechter Charakter.“
„Und ob“, sagte Diederich mit Überzeugung.
„Kennen Sie denn mein Stück?“
„Ach so. Nein. Aber ich sehe schon, was er will.“
Nämlich Jadassohn der der Sohn und Erbe des alten Grafen Kunze war, hatte gelauscht und war durchaus nicht gesonnen, die Hälfte seiner ihm von Gott verliehenen Besitztümer an die Nichte abzutreten. Er verlangte gebieterisch, daß sie augenblicklich das Feld räume; widrigenfalls er sie als Erbschleicherin verhaften und Kunze entmündigen lassen werde.
„Das ist eine Gemeinheit“, bemerkte Diederich. „Sie ist doch seine Schwester.“ Die Dichterin erklärte ihm:
„Nun ja. Aber andererseits hat er recht, wenn er ein Fideikommiß aus den Gütern machen will. Er arbeitet eben für das ganze Geschlecht, mag auch der einzelne zu kurz kommen. Für die heimliche Gräfin ist das natürlich tragisch.“
„Wenn man es recht bedenkt –“, Diederich war hocherfreut. Dieser aristokratische Gesichtspunkt kam auch ihm selbst zustatten, wenn er keine Neigung fühlte, Magda bei ihrer Verheiratung am Geschäft zu beteiligen.
„Frau Gräfin, Ihr Stück ist erstklassig“, sagte er, durchdrungen. Aber da zog Frau von Wulckow ihn angstvoll am Arm: im Publikum entstanden Geräusche, es scharrte, schnupfte sich aus und kicherte. „Er übertreibt“, stöhnte die Dichterin. „Ich habe es ihm immer gesagt.“
Denn Jadassohn führte sich wirklich unerhört auf. Die Nichte samt der komischen Alten klemmte er hinter den Tisch ein und füllte mit den tobenden Bekundungen seiner gräflichen Persönlichkeit die ganze Bühne. Je mehr das Haus ihn mißbilligte, desto herausfordernder lebte er dort oben sich aus. Jetzt zischte man sogar; ja, mehrere wandten sich nach der Tür um, hinter der Frau von Wulckow bebte, und zischten. Vielleicht geschah es nur, weil die Tür kreischte – aber die Dichterin fuhr zurück, sie verlor den Zwicker und tastete in hilflosem Entsetzen durch die Luft, [pg 293]bis Diederich ihn ihr zurückbrachte. Er versuchte, sie zu trösten. „Es hat nichts zu sagen, Jadassohn geht doch hoffentlich bald ab?“ Sie horchte durch die geschlossene Tür. „Ja, Gott sei Dank“, plapperte sie, und die Zähne schlugen ihr aufeinander. „Jetzt ist er fertig, jetzt flieht meine Nichte mit der komischen Alten, und dann kommt Kunze wieder mit dem Leutnant, wissen Sie.“
„Ein Leutnant spielt auch mit?“ fragte Diederich achtungsvoll.
„Ja, das heißt, er ist noch auf dem Gymnasium, er ist ein Sohn des Herrn Landgerichtsdirektors Sprezius: der arme Verwandte, wissen Sie, den der alte Graf seiner Tochter zum Mann geben will. Er verspricht dem Alten, daß er die heimliche Gräfin in der ganzen Welt suchen wird.“
„Sehr begreiflich“, sagte Diederich. „Es liegt in seinem eigenen Interesse.“
„Sie werden sehen, er ist ein edler Mensch.“
„Aber Jadassohn, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Frau Gräfin, den hätten Sie nicht mitspielen lassen sollen“, sagte Diederich vorwurfsvoll und mit heimlicher Genugtuung. „Schon wegen der Ohren.“
Frau von Wulckow sagte niedergeschlagen:
„Ich dachte nicht, daß sie auf der Bühne so wirken würden. Glauben Sie nun, daß es ein Mißerfolg wird?“
„Frau Gräfin!“ Diederich legte die Hand auf das Herz. „Ein Stück wie die ‚heimliche Gräfin‘ ist nicht so leicht Umzubringen!“
„Nicht wahr? Es kommt beim Theater doch wohl auf die künstlerische Bedeutung an.“
„Gewiß. Freilich, so ein Paar Ohren haben auch viel Einfluß“ – und Diederich machte ein bedenkliches Gesicht.
Frau von Wulckow rief flehend aus:
„Wo doch der zweite Akt noch viel besser ist! Er spielt in einer protzigen Fabrikantenfamilie, und die heimliche Gräfin dient dort als Stubenmädchen. Dann ist da ein Klavierlehrer, kein feiner Mensch, eine der Töchter hat er sogar geküßt, und nun macht er der Gräfin einen Heiratsantrag, den sie natürlich weit von sich weist. Ein Klavierlehrer! Wie könnte sie!“
Diederich bestätigte, es sei ausgeschlossen.
„Aber nun sehen Sie, wie tragisch: die Tochter, die sich von dem Klavierlehrer hat küssen lassen, verlobt sich auf einem Ball mit einem Leutnant, und wie der Leutnant ins Haus kommt, da ist es derselbe Leutnant, der –“
„O Gott, Frau Gräfin!“ Diederich streckte schützend die Hände vor, ganz erregt durch so viele Verwicklungen. „Wie kommen Sie nur auf all die Geschichten?“
Die Dichterin lächelte leidenschaftlich.
„Ja, nämlich das ist das Interessanteste: Nachher weiß man es nicht mehr. Es geht so geheimnisvoll zu im Gemüt! Manchmal denke ich mir, ich muß es geerbt haben.“
„Haben Sie denn so viele Dichter in Ihrer werten Familie?“
„Das nicht. Aber wenn nicht mein großer Vorfahre die Schlacht bei Kröchenwerda gewonnen hätte, wer weiß, ob ich die ‚heimliche Gräfin‘ geschrieben haben würde. Es kommt schließlich immer auf das Blut an!“
Bei dem Namen der Schlacht machte Diederich einen Kratzfuß, und er wagte nichts mehr zu fragen.
„Jetzt muß gleich der Vorhang fallen“, sagte Frau von Wulckow. „Hören Sie etwas?“
Er hörte nichts; nur für die Dichterin gab es nicht Tür noch Wände. „Jetzt schwört der Leutnant der fernen Gräfin die ewige Treue“, flüsterte sie. „So“; und alles [pg 295]Blut wich ihr aus dem Gesicht. Gleich darauf schoß es heftig zurück; man klatschte: nicht stürmisch; aber man klatschte. Die Tür ward von drinnen geöffnet. Dort hinten rollte nochmals der Vorhang hinauf, und da der junge Sprezius und die Wulckowsche Nichte hervorkamen, ward der Beifall lebhafter. Plötzlich schnellte aus der Kulisse Jadassohn, pflanzte sich vor die beiden und machte Miene, den Erfolg einzuheimsen – worauf gezischt ward. Frau von Wulckow wandte sich entrüstet ab. Der Schwiegermutter des Bürgermeisters Scheffelweis und der Landgerichtsrätin Harnisch, die ihr Glück wünschten, erklärte sie: „Herr Assessor Jadassohn ist als Staatsanwalt unmöglich. Ich werde es meinem Mann sagen.“
Die Damen gaben den Ausspruch sofort weiter und hatten viel Erfolg damit. Plötzlich war die Spiegelgalerie voll von Gruppen, die über Jadassohns Ohren herfielen. „Die Präsidentin hat recht wacker gedichtet; nur Jadassohns Ohren –.“ Als man hörte, daß Jadassohn im zweiten Akt nicht mehr wiederkomme, war man doch enttäuscht. Wolfgang Buck ging mit Guste Daimchen auf Diederich zu. „Haben Sie gehört?“ fragte er. „Jadassohn soll eine Amtshandlung vornehmen und seine Ohren konfiszieren.“ Diederich sagte mißbilligend: „Ich mache keine Witze, wenn es jemandem schlecht geht.“ Und dabei überwachte er eifrig die Blicke, die Buck und seine Begleiterin trafen. Alle Mienen lebten auf, wenn sie die beiden erblickten; Jadassohn war vergessen. Vom Ausgang trug die dünne Schreistimme des Professor Kühnchen etwas durch den Wirrwarr, das klang wie „Affenschande“. Da die Pastorin Zillich ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm legte, wandte er sich her, und jetzt verstand man es deutlich: „Eine ausgewachsene Affenschande ist es!“
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