Ryan: Du bist die Beste! Bringst du mir einen kalten Karamell-Latte von unterwegs mit? Danke!
Ich hole ihr keinen Latte.
Der Verkehr scheint ganz gut zu rollen, als ich an der Shawnee Mission East, Ryans Highschool, ankomme. Ich parke auf dem, des Aufruhrs nächstgelegenen, freien Parkplatz und betrachte mir die Situation, bevor ich aussteige. Wie das Foto nahelegt, hält Ryans Blockade die Autos davon ab, auf die Runde Zufahrt zu fahren, wo man die Kinder ein- und aussteigen lassen kann. Die Ketten sind verschwunden, aber der Verkehr wurde zu einer anderen Einfahrt umgeleitet, weil sie noch immer mitten auf der Straße steht. Sie trägt eine goldene und lila Cheerleader-Uniform und hält ein Plakat hoch. Die Buchstaben sind so fett, dass ich sie von hier lesen kann.
Eure schmutzigen Gedanken sind nicht mein Problem .
Langsam dämmert es mir.
Ryan ist erst vierzehn, aber bereits eine Aktivistin. Sie nutzt jede Gelegenheit, um zu protestieren, wenn sie das Gefühl hat, eine Person oder eine Gruppe wird ungerecht behandelt. Einmal marschierte sie vor der Bibliothek auf und ab, um für das Recht von Müttern zu protestieren, in der Öffentlichkeit zu stillen. Ein andermal schloss sie sich der Jugendgruppe in der Stadthalle an, um gegen die Steuern auf Lebensmittel zu protestieren. Sie hat auch schon Infobroschüren über die Notlage der Zwergpottwale verteilt. Vielleicht liegt es daran, dass Kansas City im Inland liegt, aber es hat sich herausgestellt, dass den Menschen im mittleren Westen die Gefühle von großen Meerestieren nicht sehr am Herzen liegen.
Vielleicht sehe aber auch nur ich es so. Allerdings liegen mir die Gefühle dieser so leidenschaftlichen jungen Dame sehr am Herzen. Sie meint es gut und hat ein großes Herz. In welche Schwierigkeiten auch immer sie sich gebracht haben mag, ich hoffe, ich kann ihr raushelfen.
Ich trinke meinen letzten Schluck mitgebrachten Pekannuss Kaffee und bin froh, ihn mitgenommen zu haben, denn das Koffein werde ich brauchen. Ich steige aus und höre Ryan sofort.
„Bekommt ihr bei meinem Anblick schmutzige Gedanken?“, schreit sie einer Gruppe verspäteten Schülern zu, die in Richtung Schule eilen. „Und? Ist das so?“
Oje.
Obwohl der Unterricht sicher schon angefangen hat, hat sich in ihrer Nähe eine kleine Menschenmenge zusammengerottet. Ein paar erwachsene Frauen befinden sich darunter, wahrscheinlich Aufsichtspersonen, einige Schülerinnen und ein Polizist.
Ich gehe auf sie zu. Der Cop spricht mit einer der Erwachsenen, als ich näher komme. Er hat mir den Rücken zugewandt.
„Sie sind sicher stark genug, sie hochzuheben“, sagt die Frau zu ihm. „Man sieht, dass sie trainieren.“ Sie flirtet so heftig, dass ich es von hier aus höre.
„CrossFit“, sagt der Cop mit einem Schulterzucken. „Fünf Tage die Woche.“
Gott, einer von denen. Großspurig. Selbstgefällig. Copmäßig. Solche Typen kenne ich. Ich wappne mich für die mir bevorstehende Interaktion mit ihm.
„Das ist ja total offensichtlich“, sagt die Flirtende. „Warum schnappen Sie sie sich nicht einfach selbst? Im Feuerwehrgriff.“
Sie ist gut. Sie hat schwarzes Haar, weiße Haut, dass es so unnatürlich aussieht, als hätte sie sich angemalt. Und sie hat sehr, sehr rote Lippen. Ich habe den Eindruck, dass Verführung eins ihrer Hobbys ist, wenn nicht sogar ihr Nebenjob.
„Das verstößt gegen die Vorschriften, ich darf keine Minderjährige anfassen. Wir müssen auf die Polizistin warten, die ich angefordert habe. Aber ich weiß das zur Verfügung stellen des Bolzenschneiders sehr zu schätzen.“
Bolzenschneider. So sind sie also mit den Ketten fertig geworden. Jetzt, wo ich genauer hinsehe, kann ich einen Berg silberner Ketten erkennen, die an dem Baum neben der Straße liegen.
Ryan, Ryan, Ryan, was hast du getan?
Geduldig stehe ich hinter dem Polizisten und warte auf einen geeigneten Moment, um zu unterbrechen.
„Ich bin keine Minderjährige“, sagt eine der Teenagerinnen und zwirbelt dabei eine dunkelblonde Haarsträhne zwischen den Fingern. „Ich bin achtzehn. Mich könnten Sie berühren, Officer Kelly.“
Und schon ist der Moment gekommen. „Entschuldigung“, sage ich mit meiner Bibliothekarinnenstimme. Freundlich, aber bestimmt. „Was geht hier vor?“
Als sie mich hört, wirbelt Ryan herum und sieht mich an. „Livia!“ Sie ist dabei, zu mir zu laufen, doch scheint sich dann daran zu erinnern, dass sie sich absichtlich dort befindet. „Hey, wo ist mein Starbucks Latte?“
Ich werfe ihr einen strengen Blick zu und sehe dann wieder nach vorn, genau in dem Augenblick, in dem sich der Cop zu mir umdreht. Und jetzt verstehe ich auch, was das ganze Aufhebens soll. Er ist heiß.
Ungefähr Ich-vergesse-was-ich-sagen-will-heiß.
Ich-hätte-mir-die-Beine-rasieren-sollen-heiß.
Hier-ist-mein-Höschen-entschuldigung-dass-es-so-nass-ist-heiß.
Ich kann nicht einmal genau festmachen, was genau es ist. Sein Körper? Sein kurzrasierter Bart? Sein sachlicher Gesichtsausdruck? Das sexbesessene Schneewittchen hat nicht übertrieben. Ganz offensichtlich trainiert er. Seine breiten Oberarme füllen die Hemdsärmel aus und sogar in kompletter Polizeimontur sieht man, dass seine Schultern breit sind und seine Taille schlank. Er ist nicht nur fit, er ist megafit. Er ist darf-ich-deine-Waffen-anfassenfit und ich hätte nie im Leben gedacht, dass ich einmal das Wort Waffen für Muskeln einsetzen würde, aber es ist passend. Aber so heiß sein Körper auch aussieht, es ist sein Gesicht, das meinen Herzschlag stolpern lässt. Wangen und Kinnpartie sind wie gemeißelt. Das Grübchen in seinem Kinn wird von dem Bart beinah verborgen. Die Nase ist gerade und stark und dann, verflucht, die Krönung des Ganzen ist die Pilotensonnenbrille, mit der er aussieht wie Sex in einer blauen Uniform.
Es ist gut möglich, dass ich mich mal kurz ablegen muss.
„Und Sie sind?“, fragt Officer zu heiß um sich an den Namen zu erinnern mit dem er gerade angesprochen wurde .
„Ich bin … hier“, sage ich, weil ich irgendwie keine Antwort auf seine Frage finden kann, wenn er mich so ansieht. Und ich kann fühlen, dass er das tut, sogar verdeckt von dieser Brille.
„Ja. Das sind Sie.“
Er lächelt fast und ich habe das Gefühl, dass er das in seinem Job nicht allzu oft tut. Er sieht zu ernsthaft dafür aus. Zu professionell. Zu sehr sich an die Fakten haltend und nichts als die Fakten. Und lieber Himmel, ich wäre froh, ihm welche zu liefern, egal welche Fakten er sich wünscht. Sobald ich mich an die Fakten wieder erinnere.
„Das ist Livia“, ertönt Ryan hinter uns und erinnert mich an diesen spezifischen Fakt. „Sie ist wegen mir hier.“
Von diesem Stückchen Information gestärkt, das ich mit Sicherheit geben kann, sage ich stolz: „Das ist korrekt. Ich bin Livia. Livia Ward.“
Mit beiden Händen an seinem Gürtel sieht der Cop von mir zu Ryan und wieder zu mir. „Und Sie sind ihre … Mutter?“
„Nein!“ Entsetzt keuche ich auf. „Oh Gott, sehe ich alt genug aus, um ihre Mutter zu sein?“ Ich wusste, ich hätte mit der Faltencreme anfangen sollen, als ich fünfundzwanzig war. „Sie ist vierzehn. Ich bin nicht alt genug, eine vierzehnjährige Tochter zu haben.“
„Ihre Mutter wurde angerufen“, sagt eine der Frauen hinter ihm. „Und ihr Vater. Beide waren nicht erreichbar.“
Ich verziehe die Lippen, als ob ich damit irgendein Argument unterstrichen hätte.
Der Cop, der seine Aufmerksamkeit nicht von mir ablenken lässt, sagt: „Es ist mein Job zu fragen, Ma’am.“
Mich schüttelt es. „Nennen Sie mich nicht Ma’am.“ Und schnell füge ich hinzu: „Bitte.“
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