Er wechselte den Platz, weil die just eine starke Biegung machende Bahn ihm den Blick auf die Berge hin entzog. Dann aber fuhr er in seiner Betrachtung fort: »Ich will sie nicht wiedersehen, so sag ich mir. Aber schließlich, warum nicht? Sind Verwirrungen denn unausbleiblich? Lady Windham in Delhi war nicht älter als Cécile, und ich selbst war um fünf Jahre jünger als heut, und doch waren wir Freunde. Niemals, in den nun zurückliegenden Tagen, hab ich mir im Umgange mit der liebenswürdigen Lady mißtraut und ihr selbst noch weniger. Also warum kein Wiedersehen mit Cécile? Warum nicht Freundschaft? Was in einer indischen Garnisonstadt möglich war, muß noch viel möglicher sein innerhalb der Zerstreuungen einer großen Residenz. Sind doch Einsamkeit und Langeweile so recht eigentlich die Gevatterinnen, die die Liebestorheit aus der Taufe heben.«
Er warf die Zigarette fort, lehnte sich zurück und wiederholte: »Warum nicht wiedersehen?« Aber er konnte weder Ruhe noch Trost aus dieser Frage schöpfen. »Ach, daß ich von der Frage nicht loskomme, das ist eben das Mißliche, das gibt die Vorwegentscheidung. Ich entsinne mich eines Rechtsanwalts, der mir einmal beim Schoppen erzählte: ›Wenn wer zu mir kommt und im Eintreten schon anhebt, Ich habe da was geschrieben und wollte nur noch von ungefähr anfragen, ob vielleicht eine Stelle… ‹, so ruf ich ihm schon von weitem zu: ›Streichen Sie die Stelle. Sie würden mich nicht fragen, wenn Sie nicht ein schlechtes Gewissen hätten.‹ Und daß ich immer wieder frage, ›warum nicht Freundschaft?‹, das ist mein schlechtes Gewissen, das beweist mir, daß es nicht geht und daß ich den Gedanken daran fallenlassen muß. Cécile lebt nicht für Kränzchen und ›Flora‹-Konzerte, soviel steht fest; ob die Natur sie so schuf oder ob das Leben sie so bildete, gilt gleich. Möglich, ja wahrscheinlich, daß sie sich zeitweilig nach Idyll und Herzensgüte sehnt, aber sie schätzt instinktiv einen jeden nach seinen Mitteln und Gaben, und ich wäre der Lächerlichkeit verfallen, wenn ich meinen Ton ihr gegenüber plötzlich auf Kunstausstellung und Tagesneuigkeiten oder gar auf den vorlesenden Freund stellen wollte. Was sie von mir erwartet, sind Umwerbungen, Dienste, Huldigungen. Und Huldigungen sind wie Phosphorhölzer, eine zufällige Friktion, und der Brand ist da.«
Solche Betrachtungen begleiteten ihn und kamen ihm während seines Bremer Aufenthalts allabendlich wieder, wenn er, nach den Geschäften und Mühen des Tages, seinen Spaziergang am Bollwerk hin machte. Seine Vorsätze blieben dieselben, aber freilich seine Neigungen auch, und als er eines Tages, wo diese Neigungen mal wieder stärker als die Vorsätze gewesen waren, in seine Wohnung heimkehrte, schob er ein Tischchen an die Balkontür seines nach dem Flusse hin gelegenen Zimmers und setzte sich, um an Cécile zu schreiben.
Es war eine kostbare Nacht, kein Lüftchen ging, und auf den vorüberflutenden Strom fielen von beiden Ufern her die Quai- und Straßenlichter; die Mondsichel stand über dem Rathaus, immer stiller wurde die Stadt, und nur vom Hafen her hörte man noch Singen und den Pfiff eines Dampfers, der sich, unter Benutzung der Flut, zur Abfahrt rüstete.
Rasch flog Gordons Feder über die Seiten hin, und die weiche Stimmung, die draußen herrschte, bemächtigte sich auch seiner und fand in dem, was er schrieb, einen Ausdruck.
Die Verhandlungen in Bremen währten länger als erwartet und kamen erst zum Abschluß, als eine nach den friesischen Inseln hin unternommene Reise die bis dahin bezweifelte Durchführbarkeit des Unternehmens bewiesen hatte. Gordon lernte bei der Gelegenheit Sylt und Föhr kennen, auch Norderney, woselbst er emsig nach den St. Arnauds forschte, die, dessen entsann er sich, den Plan gehabt hatten, ihre Sommertour auf Norderney zu beschließen. Er ging aber vergeblich die Fremdenliste durch und war endlich froh, die Insel, der er seine Mißstimmung entgelten ließ, nach zweitägigem Aufenthalt wieder verlassen zu können.
Anfang August war er in Berlin, wo, neben amtlichen und finanziellen Vorbereitungen, auch allerlei das Technische betreffende Bestellungen und Kontrakte zu machen waren. Er bezog eine schon Ende Mai, kurz vor seiner Reise nach Thale, gemietete Wohnung in der Lennéstraße, wohin er auch alle Briefe zu richten angeordnet hatte. Leider fand er nichts vor, weder in der Wohnung noch auf der Post, oder doch nicht das, woran ihm am meisten gelegen war. Eine schlechte Laune stellte sich ein, aber glücklicherweise nicht auf lange.
»Tor, der ich bin und immer nur mit meinen Wünschen rechne. Man braucht kein Menschenkenner zu sein, um zu wissen, daß Cécile keine passionierte Briefschreiberin ist. Wäre sie das, so wäre sie nicht sie selbst. Briefeschreiben ist wie Wetterleuchten; da verblitzt sich alles, und das Gewitter zieht nicht herauf. Aber Frauen wie Cécile vergegenständlichen sich nichts und haben gar nicht den Drang, sich innerlich von irgendwas zu befreien, auch nicht von dem, was sie quält. Im Gegenteil, sie brüten darüber und überladen sich mit Gefühl bis dann mit einem Male der Funken überspringt. Aber sie schreiben nicht, sie schreiben nicht.«
Er schob, während er so sprach, den Sofatisch beiseit‘ und begann auszupacken. Unter den ersten Sachen war auch eine Schreibmappe, deren Deckel eine Photographie zeigte, das Bild seiner Schwester. In der Stimmung, in der er war, sah er sich's an und sagte: »Clothilde. Wie gut sie aussieht. Aber sie taugt auch nichts. Es muß über drei Wochen sein, daß ich an sie geschrieben. Und bis heute keine Antwort, trotzdem das Thema nichts zu wünschen übrigließ. Denn über was schrieben Frauen lieber als über eine andre Frau, und noch dazu, wenn sie merken, daß man sich für diese andre interessiert. Und doch kein Wort. Ist ein Brief verlorengegangen? Unsinn, Briefe gehen nicht verloren. Nun, es wird sich aufklären. Vielleicht liegt mein langes Skriptum irgendwo in Liegnitz, während Fräulein Schwester noch in der Welt umherfährt.«
In diesem Augenblicke klopfte es.
»Herein.«
Der Eintretende war ein Großindustrieller, Vorstand einer Fabrik für Maschinenwesen und Kabeldrähte, dem Gordons Ankunft von Bremen her telegraphiert worden war und der nicht säumen wollte, sich ihm vorzustellen. Gordon entschuldigte sich wegen der überall im Zimmer herrschenden Unordnung und bat den Fremden, einen eleganten Herrn von augenscheinlich weltmännischen Allüren, in einem der Fauteuils Platz zu nehmen. Der Fremde lehnte jedoch mit vieler Verbindlichkeit ab und lud seinerseits Gordon ein, ihn nach seiner Charlottenburger Villa hinaus begleiten und daselbst sein Gast sein zu wollen; sein Wagen halte bereits vor der Tür, und was Geschäftliches zu sprechen sei, lasse sich unterwegs verhandeln. »Wir haben dann den Abend für ein Gespräch mit den Damen.« Seine Frau, so schloß er, die passioniert für Nilquellen und Kongobecken sei, freue sich ungemein, einen so weitgereisten Herrn kennenzulernen, und wenn es Afrika nicht sein könne, so werde sie sich auch mit Persien und Indien zufriedengeben.
Gordon fühlte sich durch die ganze Sprechweise sehr angeheimelt und nahm an.
Der Abend in Charlottenburg war entzückend gewesen, und Gordon hatte sich wieder überzeugt, »wie klein die Welt sei«. Gemeinschaftliche Freunde waren entdeckt worden, in Bremen, England, New York, und zuletzt auch in Berlin selbst. Auch den Obersten von St. Arnaud kannte man; er habe eine schöne Frau, die schon einmal verheiratet gewesen sei (sehr hoch hinauf), und habe eines Duells halber den Abschied nehmen müssen. Unter solchem Geplauder war der Abend vergangen, und erst lange nach Mitternacht hatte Gordon, in einem Mischzustande von Müdigkeit und Angeheitertsein, seinen Heimweg angetreten.
Nun war es Morgen, und er erschrak fast, als er in sein Wohnzimmer trat und sich hier umsah. Alles lag noch gerade so da, wie's gestern, als der Besuch kam, gelegen hatte: Wäsche, zerstreut über die Stühle hin, Überzieher und Fracks an Schrankecken und Fensterriegel gehängt, und der Koffer selbst halb aufgeklappt zwischen Tür und Ofen. Am buntesten aber sah es auf dem Sofatisch aus, wo Nagelscheren und Haarbürsten, Eau-de-Cologne-Flaschen und Krawatten ein Chaos bildeten, aus dessen Zentrum ein rotes Fez und als Überraschung ein Markt-Astern-Bouquet aufragte, das die Wirtin, vielleicht um sich ihres Mieters fester zu versichern, mit beinah komischer Sorgfalt in eine blaue Glasvase mit Silberrand hineingestellt hatte. Nirgends ein Zollbreit Platz. Zu dem allen kam in eben diesem Augenblick auch noch der Kaffee; Gordon nahm schnell eine Schale voll und setzte dann das Tablett auf den Bücherschrank.
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