Noch bliebe Zeit, die Menschen von Coventry zu warnen oder zu evakuieren.
Zunächst ist der Premierminister nicht erreichbar, dann entscheidet er sich zwar, die Verteidigungsmaßnahmen zu verstärken, die Zivilbevölkerung jedoch nicht zu warnen, um das Enigma-Geheimnis zu wahren. Um 20 Uhr heulen in der Stadt die Sirenen zum ersten Mal. Die Bevölkerung, die sich ohne Eile und Panik in den Keller begibt, ahnt nicht, daß die Angriffe bis 5 Uhr 30 morgens andauern und gleichermaßen Flugzeugwerke und Wohnviertel, unersetzbare Baudenkmäler und die berühmte Kathedrale zerstören werden.
Das Flammenmeer ist über hundert Meilen weit zu sehen und weist den nachfolgenden deutschen Verbänden den Weg. »Immer näher kamen wir heran«, heißt es in einem vom OKW veröffentlichten Augenzeugenbericht. »Das schaurig-schöne Bild rückte greifbar nahe. Dicker Qualm zog über die Dächer der Stadt weit ins Land hinaus. Wir konnten deutlich hohe Flammen zucken sehen. Ein besonders großer Brandherd neben unzähligen anderen zeigte an, daß eine umfangreiche Industrieanlage schwer getroffen sein mußte. Wir waren über dem Ziel. Die Flak schoß verzweifelt. Um uns die Blitze explodierender Granaten. Wir konnten deutlich die Brandherde in ihrem riesengroßen Ausmaß erkennen und sahen Flammen über große Teile der Industriestadt züngeln. Im gleichen Augenblick lösten sich unsere Bomben. Ein Schlag ging durch die Maschine. Unten zuckte ein tagesheller Schein von neuen Explosionen auf. Wir waren die erste Maschine einer Gruppe deutscher Kampfflugzeuge; andere waren vor uns da, neue folgten – bis zum Dämmerlicht des neuen Tages, der den ganzen Umfang der Katastrophe von Coventry enthüllen sollte.«
Associated Press meldet aus London: »Deutsche Bomber haben bei einem von der Abenddämmerung bis zum Morgengrauen dauernden Angriff, der Teile der Stadt in eine Hölle verwandelte und mindestens tausend Tote und Verwundete kostete, das Herz dieser ehedem friedlichen Stadt in Mittelengland vernichtet. Coventrys wundervolle berühmte Kathedrale aus rotbraunem Sandstein ist eine rauchende Trümmerstätte ... Die ganze Nacht hindurch zitterten und barsten die engen Straßen, durch die vor bald tausend Jahren Lady Godiva auf ihrem Roß geritten war, unter dem Donner der Sturzkampfflugzeuge, heulenden Bomben und ihren Explosionen und dem Krachen des Flakfeuers.«
Eine genaue Überprüfung ergab in den nächsten Tagen, daß bei dem von deutscher Seite zum Vergeltungsangriff deklarierten Bombardement 551 Engländer getötet und 865 schwer verletzt worden waren. Die Schäden waren so gewaltig, daß die Nacht vom 14. auf 15. November als der Höhepunkt der nächtlichen Luftoffensive angesehen wurde. Tatsächlich waren in zwölf Flugzeugwerken Treffer erzielt worden, die die englische Produktion vorübergehend um ein Fünftel verringerten.
Göring läßt sein Vernichtungswerk als gewaltigen Sieg feiern, Goebbels dem deutschen Sprachschatz das neue Wort »coventrieren« einverleiben: Es steht in aller Welt für rücksichtslosen Luftkrieg, wie ihn die Engländer und Amerikaner schon bald mit weit größerem Erfolg führen werden.
Schon am nächsten Tag melden die Briten Angriffe auf Hamburg, Bremen sowie die Reichshauptstadt. »Der Angriff gegen Berlin begann bereits in den frühen Abendstunden und wurde von einander ablösenden Maschinen mehrere Stunden lang durchgeführt«, behauptet übertreibend das englische Bomberkommando. »Er verursachte eine Reihe schwerer Brände, die noch auf eine Entfernung von 50 Kilometer gesehen wurden.«
Noch war es mehr Propaganda als Terror, aber bald würde das Ausmaß des Terrors die Propaganda sprachlos machen.
Noch immer rollte die längst gescheiterte deutsche Luftoffensive weiter. Die Besatzungen, die die Hölle über der Insel ausklinkten, mußten selbst durch die Hölle fliegen, hin und zurück, oft mehrmals in einer Nacht. Sie waren so abgekämpft und erschöpft, daß mitunter unausgebildete Männer vom Bodenpersonal, Zahlmeister und sogar Luftwaffenärzte mitflogen, um Bordschützen zu ein paar Stunden Schlaf zu verhelfen.
Wie sie von En-gel-land zurückkamen, schildert Oberleutnant Küchle, Schwarmführer vom Kampfgeschwader 51, der bei einem Angriff auf Portsmouth in der Nacht vom 10. auf den 11. Januar 1941 zweimal von britischen Nachtjägern angegriffen worden war und als letzter über dem französischen Hafen kreiste, um bei der zu erwartenden Bruchlandung die anderen Maschinen nicht zu gefährden: »Bei den beiden Angriffen erhielt das Flugzeug 38 Treffer. Der rechte Reifen wurde bereits in der Luft zerschossen. Acht bis zehn größere Einschußlöcher lassen den Schluß zu, daß es sich dabei um Explosivgeschoße aus überschweren MGs oder einer Bordkanone handelt. Bei jeder Fläche wurde das Mündungsfeuer von drei Rohren beobachtet. Vielleicht befindet sich darunter eine Kanone. Der Nachtjäger schoß mit grüner Leuchtspur. Das gepanzerte Kabinendach (Ausführung Opel) hatte mehrere Treffer, die die Panzerung nicht durchschlugen. Die rechte Luftschraube erhielt zwei Durchschüsse. Ebenfalls erhielt das Leitwerk mehrere Durchschüsse, die zum Teil vom Bordfunker stammen könnten.«
Während Oberleutnant Küchle bei diesem Einsatz noch einmal mit dem Schrecken davongekommen war, endete für eine andere Ju-88-Besatzung des »Edelweiß«-Geschwaders der Angriff auf die Insel weit weniger glimpflich. Flaktreffer und Jägerbeschuß beschädigten die Maschine des Oberleutnants von Claer schwer. Zwei Mann seiner Besatzung lagen tot in der Maschine, die er noch wenden konnte. Aber über dem Kanal war Feierabend; er mußte herunter und eine Notlandung im Kanal bauen.
Die Ju 88 war nicht mehr zu retten, aber der Oberleutnant und Feldwebel Märte konnten das Schlauchboot aussetzen und die Schwimmwesten anziehen. Sie kamen aus dem Wrack, bevor es unterging. Sie trieben bei stürmischer See in ihrem durchlöcherten Schlauchboot. »Mit Mühe hielten sie sich fest, um nicht ein Spielball der Wellen zu werden«, berichtet in seiner Chronik des Kampfgeschwaders 51 Wolfgang Dierich. »Stunden vergingen. Als die Nacht hereinbrach, hatte sich die schwere Fliegerbekleidung längst mit Salzwasser vollgesaugt und drohte die Ermatteten trotz der unförmigen Schwimmwesten in die Tiefe zu ziehen ..«
Mit schwindenden Kräften stellten die Überlebenden fest, daß sie die Schwimmwesten nicht mehr tragen konnten. Sie stemmten sich gegen den Tod, aber ihre Kräfte erlahmten. Die Sinne schwanden, blieben aber noch so wach, daß sie begriffen, daß einer, wenn er die Schwimmweste des arideren dazu erhielt, noch durchkommen konnte. Der Feldwebel war verheiratet und hatte zwei Kinder, sein Oberleutnant Junggeselle. Er streifte seine Schwimmweste ab und übergab sie auf Kosten seines Lebens dem zu Rettenden. Märte konnte sie erst überziehen, als Claer ertrunken war. Er hielt ihn noch fest. »Besinnungslos, mit schweren Salzwasserverbrennungen am ganzen Körper, fand ein deutsches U-Boot beide in den frühen Morgenstunden und nahm sie an Bord«, schließt Wolfgang Dierich seinen Bericht.
Der ausgefallene Sprung auf die Insel, die wasserscheue Operatiort Seelöwe, hat die deutsche Luftwaffe 3363 Gefallene, 2117 Verwundete und 2265 Flugzeuge gekostet. 2641 Soldaten des fliegenden Personals wurden vermißt oder waren in englische Gefangenschaft geraten. Die deutsche Luftwaffe verlor jeden vierten Jäger und 35 Prozent ihrer Kampfflugzeuge.
»Die Luftschlacht um England war nicht nur ein Wendepunkt im Kriege«, stellt General Johannes Steinhoff fest, »sie bedeutete den Sieg für die Engländer ... Die sehr junge deutsche Luftwaffe – sie war ja nur sechs Jahre alt – verlor dabei so viel unersetzliche Substanz, daß sie bis zum Ende des Krieges ihrer eigentlichen Aufgabe, nämlich das Reich vor der Zerstörung durch die Bomber der Alliierten zu schützen, nicht mehr gewachsen war.«
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