Kaum einer konnte noch schlafen. Oberleutnant Schäfer, ein Zerstörerpilot, kreiste unentwegt über seinem E-Hafen und wartete auf das Einschalten der Randbeleuchtung; er hatte vergessen, die Sonnenbrille abzunehmen. Oberleutnant Ludwig Franzisket trank jeweils vor dem Einsatz eine kleine Flasche Rum aus, und Eduard Neumann, ein schon im ersten Weltkrieg bewährter Pilot, führte seinen Verband 300 Kilometer in die falsche Richtung, ohne zu bemerken, daß sein Kompaß versagte.
Die neuen Geschwaderchefs waren alle unter dreißig und auch bereits legendär; sie hießen Werner Mölders, Adolf Galland, Hannes Trautloft, Wolfgang Schellmann oder Günter »Franzl« Lützow. Mit Helmut Wiek avancierte dann ein Fünfundzwanzigjähriger binnen drei Monaten vom Staffelkapitän zum Kommodore. Über der Insel Wight besiegte er seinen 56. Gegner. Minuten später wurde er von dem englischen Oberleutnant John Dundas – vierzehn Luftsiege – selbst abgeschossen, der bereits ein paar Sekunden danach Opfer von Wicks Rottenflieger Rudolf Lanz wurde, der wiederum später über Abbéville fiel.
Dies alles wirft ein Schlaglicht auf die Lebenserwartung der Jagdflieger; sie kämpfen auf verlorenem Posten, sterben auf einem Kriegsschauplatz, den ihr Führer längst zugunsten eines anderen, noch weit grausameren abgeschrieben hat. Die Verlegung des Luftkrieges in die Nacht macht die Tagesjäger auf diesem Kriegsschauplatz weitgehend arbeitslos. An ihrer Stelle zahlen jetzt die Kampfflieger den Blutzoll.
Über die zerfahrene Befehlsgebung, über den mehrfachen Zielwechsel, über das drohende Scheitern der Luftschlacht über England erfährt die deutsche Zivilbevölkerung nichts. Immer wieder ertönen die Fanfaren der Sondermeldungen im Reichsrundfunk, vermelden die Sprecher mit gehobener Stimme »Bomben auf En-gel-land«. Noch immer verkündet das Propagandaministerium, daß die Kapitulation der Insel unmittelbar bevorstünde, und werden, wie die US-Nachrichtenagentur »United Press« aus Berlin meldet, in der Reichshauptstadt hektische Wetten über das baldige Kriegsende abgeschlossen: Wehrmachtsoffiziere setzen auf Anfang Oktober, die internationale Presse, etwas zurückhaltender, gesteht der englischen Widerstandskraft zwei Wochen mehr zu.
Zu diesem Termin freilich, am 12. Oktober, wird von Hitler die »Operation Seelöwe« auf unbestimmte Zeit – das bedeutet praktisch für immer – aufgeschoben. Während der Diktator bereits stur auf den Osten fixiert ist, rollt die zwecklose Offensive über Südengland weiter.
»Beginnend mit dem 1.11.1940 nahm die Luftwaffe ihren letzten Zielwechsel vor«, schreibt in seinem Buch »Der Luftkrieg über Deutschland« Franz Kurowski. »Von nun an sollten sämtliche größeren und wichtigeren Industrie- und Hafenstädte bis zur Eindringtiefe der Bomber zum Schwerpunkt der Nachtangriffe werden. Das bedeutet für die Kampfflugzeuge, oftmals zwei, manchmal auch drei Einsätze in einer Nacht zu fliegen.«
Das bedeutet aber auch, daß der zweite Weltkrieg dabei war, die letzte Hemmschwelle eines schrankenlosen Luftkrieges gegen die Zivilbevölkerung zu überschreiten. War die Zielansprache bei Tagesluftangriffen schon problematisch, schlossen sie nächtliche Angriffe praktisch aus. Wer mit massierten Kräften Industriewerke am Stadtrand angriff – noch dazu bei den miserablen Navigationsmöglichkeiten im Herbst 1940 –, führte Krieg gegen Frauen und Kinder, wie er zum Beispiel von der Washingtoner Konferenz des Jahres 1922 ausdrücklich verboten worden war.
Noch vor einem Jahr hatten sich die kriegführenden Parteien dazu bekannt. Dann waren auf beiden Seiten versehentliche Bombardierungen mit Vergeltungsangriffen beantwortet worden. Die Eskalation der Unmenschlichkeit wurde weder auf deutscher noch auf britischer Seite von humanitären Skrupeln, sondern ausschließlich von der mangelnden Schlagkraft der jeweiligen Bomberpulks begrenzt. Und das hieß im Klartext: Wer einsatzfähige Kampfflugzeuge zur Verfügung hatte, war der Vergelter; der Angegriffene trat dann als Opfer der Barbarei auf. Es war ein blutiges Spiel mit ständig wechselnden Rollen.
Dabei gab es keine schuldige Seite – es gab ausschließlich Schuldige.
»Ein Krieg besteht fast nur aus Handlungen, die in Friedenszeiten als kriminell eingestuft werden müßten«, stellt der britische Autor Alastair Revie fest, der am zweiten Weltkrieg als Offizier teilgenommen hatte. »Demzufolge war die ganze Vorstellung, man könnte das Verbrechen im Krieg vermeiden oder zumindest reduzieren, schon immer absurd. Was Kriegsverbrechen sind, wurde über die Jahre hin immer von neuem definiert. Und selbst 1940 versuchte man noch solche Daten mit Hilfe von internationalen Komitees und Erklärungen ›nichtbeteiligter‹ Staatsmänner kontrollieren zu können ... Nachdem also Angriff und Gegenangriff aufeinander folgten und man erkannt hatte, daß der Bombenwurf aus großer Höhe und bei Nacht auf Ziele wie Fabriken, Eisenbahnanlagen, Docks und ähnliches bei weitem ungenauer war, als zuerst angenommen, hatte man sich wohl mit der Unvermeidlichkeit der ›Flächenangriffe‹ oder ›Terrorangriffe‹ als einer mehr zufälligen und unglücklichen Begleiterscheinung solcher Operationen abzufinden. Nun gab man auch jeden Vorwand auf, daß das Bombenwerfen etwa moralisch verteidigt werde könnte, umso mehr als man sich bereits am Vorabend der Zerstörung von Coventry und des Angriffs auf Mannheim befand.«
Nacht für Nacht liegt London im Bombenhagel – 100 bis 300 Maschinen mit dem Balkenkreuz greifen jeweils an –, und stets Kehren weit weniger zurück. Die Wucht der deutschen Schläge nimmt im gleichen Maße ab, wie die Erfolge der Verteidiger größer werden Experten errechnen, daß zwanzigmal mehr deutsche Kampfflugzeuge nötig wären, wenn London, wie von Hitler und Göring angekündigt, tatsächlich »ausradiert« werden sollte.
»Das Ziel war, einfach gesagt, zu groß, und die Menge der Bomben, im Durchschnitt etwa über eine Tonne pro Flugzeug, war zu gering, so zynisch das auch klingen mag«, stellen die britischen Autoren John W. R. Taylor und Philip J. R. Moyes fest.
Auch Städte wie Birmingham, Leeds und Sheffield werden zu Bombenzielen. Nicht selten werfen Görings Bomber ihre Todesfracht auch nur in künstlich gelegte Heidebrände, mit denen die Engländer »brennende Städte« darstellen. Ihr Radarnetz funktioniert fast pannenfrei. Sie setzen jetzt »Blenheims« als Nachtjäger ein. Freilich sind die Piloten auf helles Mondlicht oder auf Scheinwerferkegel angewiesen, und die Wahrscheinlichkeit, von der eigenen Flak heruntergeholt zu werden, ist noch immer größer als die Chance, eine Gegnermaschine abzuschießen.
Aber nicht nur psychologisch sitzen den Angreifern jetzt Abfangjäger im Nacken. Englands größter Trumpf ist noch immer das Enigma-Gerät. In Bletchley Park, meistens schon Stunden vor dem Angriff, sagt den Engländern die elektronische Kassandra das Ziel voraus und ermöglicht dadurch verstärkte Abwehrmaßnahmen.
Enigma – sie nennen es Ultra – ist für die Briten unersetzbar. Am 14. November 1940 aber verleitet die Geheimhaltung den Regierungschef Winston Churchill zu einer militärisch richtigen, menschlich jedoch unmöglichen Entscheidung. Gegen 15 Uhr dechiffrieren die Codebrecher von Bletchley Park die Meldung, daß in der Nacht ein deutscher Großangriff auf die mittelenglische Stadt Coventry bevorsteht. Görings Geschwader verfügen erstmals über das Knickebein-Verfahren, eine verbesserte Navigationshilfe. Die Wetterbedingungen sind für die Kampffliegerformationen äußerst günstig. Es herrscht Vollmond und Windstille. Unter diesen Umständen muß damit gerechnet werden, daß die beiden Staffeln der Kampfgruppe 100, die als Vorläufer die anderen Verbände in die Industriestadt heranlotsen, das Ziel erreichen, mit Feuerbränden markieren und unter der Zivilbevölkerung eine Katastrophe auslösen werden.
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