Die Masse der Angetretenen war zu teilen nach Heerhaufen. Armbinden verschiedener Färbung wurden ausgegeben. In getrennten Blöcken erfolgte Abmarsch der Heerhaufen in Richtung Galgenberg und Domäne Behncke, wobei im Gleichschritt Lieder zu singen waren, Es zittern die morschen Knochen und Unsre Fahne flattert uns voran . Angelangt am westlichen Abhang des Galgenbergs, wo Hain- und Rotbuchen wuchsen neben vereinzelten Lärchen, mussten die Angehörigen der beiden Heerhaufen alsbald einander feindlich sein. Sie sollten sich belauern. Sie sollten sich hassen. Sie mussten einander verfolgen und übereinander herfallen, sich gegenseitig zu Boden zerren und ihre nach Knabenschweiß stinkenden halbwüchsigen Leiber durchs raschelnde Vorjahrslaub wälzen. Nackte Knabenknie setzten sich auf des Gegenüber Schultern. Blut quoll dick und dunkelrot aus knäbischen Nasenlöchern. Hämatome blühten blaugrün auf Rippen und Schläfen.
Zum Zeichen des Sieges war dem Unterlegenen die Armbinde abzunehmen. Der Sieger hob die Hand mit dem erbeuteten Stoffstück über den Kopf. Der Gedemütigte führte für den Rest des Geschehens eine Geisterexistenz. Unbeachtet, auch sich selber verächtlich, lief er auf dem Gelände umher und fand sich zusammen mit seinesgleichen. Die genaue Menge der von einer einzelnen Partei eingeholten Armbinden wurde hernach durch Zählung ermittelt und der Heerhaufen mit der größeren Beute zum Sieger erklärt. Der versammelte Jungzug marschierte zurück zum Schlachthof und wurde von Zugführer Rohwedder mit mehrfachen Sieg-Heil-Rufen entlassen.
Jacob hasste solche Spiele. Es war ihm widerlich, schweißglitschige Nacken und Arme anzufassen und ihnen Gewalt anzutun. Er wusste nicht, wieso er jemandem eine farbige Binde vom rechten Ärmel reißen und hinterher Triumph empfinden sollte. Er hasste es, sich mit Ytsche Lehmann auf dem Boden zu wälzen, bloß um zu sehen, dass Ytsche Lehmann, fett wie er war, auch über die größeren Kräfte verfügte. Ytsche Lehmanns feistes Gesäß auf dem Brustkorb, den schweißglänzenden und triumphierend grinsenden Ytsche-Lehmann-Kopf unmittelbar über sich, wurde Jacob von einem Gefühl grenzenloser Ohnmacht erfasst, dessentwegen er nicht bloß Ytsche Lehmann hasste, sondern außerdem Jungzugführer Rohwedder und das gesamte Deutsche Jungvolk.
Er suchte nach Möglichkeiten, den sinnlosen Prügeleien von Jungzugführer Rohwedders Geländespielen zu entgehen. Man konnte nach dem Kommando Ausschwärmen den Ort des voraussichtlichen Kampfgeschehens verlassen. Man konnte sich hinhocken hinter dem schützenden Stamm einer ausgewachsenen Rotbuche und mit dem Taschenmesser aus daumendicken Weidenzweigen Pfeifchen schnitzen. Wenn der Lärm schließlich nachließ und das Kampfende damit vorgegeben war, wenn Jungzugführer Rohwedder zum Sammeln pfiff auf seiner schwarzen Trillerpfeife, deren Geräusch viel schriller und hässlicher klang als das der selbstgeschnitzten Weidenpfeifchen, konnte man wie zufällig wieder auftauchen zwischen den Lärchenstämmen. Man konnte ein Stück Stoff vorweisen, vorsorglich mitgebracht von daheim, in einer der zwei üblicherweise verwendeten Farben.
So was ging eine Weile ganz gut, bis ausgerechnet Ytsche Lehmann, der in Mathematik so schlecht war, dass er von Jacob darin Nachhilfe bekam, die Entdeckung machte und es auch laut vortrug, da seien mehr Armbinden im Umlauf, als das Geländespiel Teilnehmer habe. Zugführer Rohwedder ließ sofort zweimal nachzählen. Hinterher empörte er sich über das schmähliche Verhalten von mindestens einem, der es nicht wert sei, den Ehrentitel Pimpf zu tragen. Jacob hatte den Eindruck, Ytsche Lehmann blicke bei Zugführer Rohwedders Rede mit hämischem Grinsen hin zu ihm, Jacob.
Beim nächsten Geländespiel waren Ytsche Lehmann und Jacob in derselben Partei. Beim darauffolgenden Geländespiel wieder. Zwei weitere Spiele fielen aus, weil jedes Mal zum Zeitpunkt des Dienstbeginns rechtzeitig die Sirenen heulten und Fliegeralarm war. Das folgende Geländespiel fand an einem Mittwoch statt.
Kein Fliegeralarm war. Auch kein Regen fiel, der sie statt zum Galgenberg ins Lüttgenweddinger Schützenhaus geschickt hätte, damit sie dort Lieder übten und Geschichten hörten, von heldischen deutschen Panzerfahrern, Kampffliegern und U-Boot-Kapitänen. Beim Abmarsch vom Platz neben dem Schlachthof waren Ytsche Lehmann und Jacob diesmal jeder in einer anderen Partei. Nach dem Kommando Ausschwärmen rannte Jacob den Nordhang des Galgenbergs hinab, während der befohlene Kampf hauptsächlich auf der Bergkuppe ausgetragen wurde und auf dem Westhang.
Nach einer Weile hörte Jacob hinter sich Geräusch. Er blieb stehen. Er duckte sich ins Untergehölz, das ziemlich dicht war und aus verkrüppelten Lärchen, Eichenschösslingen und Farnwedeln bestand. Er entdeckte Ytsche Lehmann, der suchend herumlief zwischen den Stämmen und den Mund halb offen hielt vor Anstrengung oder Begierde. Ytsche Lehmann wollte unwürdiges Verhalten aufspüren. Ytsche Lehmann wollte nach Jacob suchen.
Jacob meinte Ytsche Lehmann keuchen zu hören. Er duckte sich tiefer und kroch bis zu einer Hainbuche. Er sah, dass der Stamm zur hangabweisenden Seite, zwischen zwei dicken Wurzelsträngen, eine Höhlung aufwies. Alle Wälder im Gebirge wurden die letzten Jahre mehr und mehr heimgesucht durch Schädlinge, vor allem den Raupen von Blastophagus piniperda und Ips typographus .
Die Höhlung war groß. Sie war groß genug, dass Jacob hineinkriechen und sich im Bauminneren aufrichten konnte. Hier herrschte Dämmerung. Es roch intensiv nach Nässe und fauligem Holz. Morsches rieselte herab, auf Jacobs Haare und hinein in den Kragen von Jacobs Hemd. Jacob hörte Ytsches Schritte kommen und sich wieder entfernen. Draußen war dann bloß noch schläfriges Grillengezirp.
Jacob fand, er habe ein feines Versteck gefunden, das sich vielleicht auch anderweitig nutzen ließ, unabhängig von Jungzugführer Rohwedders Geländespielen. Jacob hockte sich hin. Er saß auf weichen bröselnden Spänen, wo, ließ sich denken, Maden wimmelten und große rötliche Waldameisen ihre weißen Larven schleppten. Die Vorstellung von glatten oder haarigen Kerbtieren ekelte Jacob überhaupt nicht. Es mochte sein, dass die Insekten alkaloide Gifte verspritzten oder die Mikroben, die das Holz fraßen, Säfte abließen, die den Nerven von höherentwickelten Säugern Lähmung beibrachten. Jacob schien, als erstürben ihm allmählich die Glieder. Die Öffnung, durch die er gekrochen war, hatte sich geschlossen.
Dunkelheit herrschte jetzt, wie in irgendeinem der abgetäuften Stollen am Biesenberg. Jacob hatte kein Licht bei sich. Wo aber eines hernehmen? Da griff Angst nach seiner Gurgel, kalt und wie eine unsichtbare Hand, weil aus dieser Dunkelheit womöglich nie mehr ein Entkommen war. Zu seiner Erleichterung sah er in der Ferne ein Licht. Es kam rasch näher und war beim Näherkommen nichts anderes als eine Lampe, die jemand trug, nämlich ein riesiger Kerl, mit einer Bergmannskappe auf dem Schädel und am Leib eine stumpfschwarze härene Kutte. Er sah aus wie eine der Sagenfiguren, von denen Jacob gelesen hatte und die hier in der Gegend zu Hause waren, Hexen und Riesen und Teufel und Zwerge.
Der Kerl sah aus wie der Bergmönch und war es wohl auch. Der Kerl hob die linke Hand und redete: Lat dik man. Da fiel ihm offenbar ein, dass Jacob zwar gebürtig war aus dem niederdeutschen Lübeck, aber aufgewachsen in Chemnitz, wo die Leute mitteldeutsch, besser obersächsisch sprachen, weswegen sich Jacob immer noch schwertat mit ostfälischem Platt. Der Kerl sagte also: Lass dich man. Sagte: Des jeht sich schon in Ordnung. Ich will dich schon immer mal helfen. Musste dich nu nich Angst haben. Hierauf fiel er doch wieder in die angestammte Redeweise zurück, denn er schloss: Do buten is all öwer, min Kind. Daraufhin schlug er mit der linken Faust gegen die Wand, dass sie sich augenblicklich auftat und es blendend hell wurde, aber die Blendung geschah nicht durch Gold und Silber, sondern durch Tageslicht, da ja die Wand auch keine richtige Stollenwand war, sondern bloß die verbliebene Hülle einer durch Würmer und Mikroben gründlich zerfressenen Hainbuche. Jacob kroch also wieder hinaus. Er blinzelte, richtete sich auf zwischen den Wurzeln und schüttelte sich bräunliches Buchenholzmehl von den Schultern. Er hörte das Signal von Jungzugführer Rohwedders Trillerpfeife, mit der das Geländespiel beendet wurde.
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