Mit meiner Geschichte möchte ich Menschen Mut machen, sich fest und ganz auf Gott und sein Wort zu verlassen. Denn er ist ein wunderbarer, zuverlässiger Herr, der seine Kinder nie im Stich lässt.
Hildi Hari-Wäfler
März 2012
Bern – ein neuer Weg
Ankunft in Bern
Es war ein schöner Augustabend im Jahr 1960, als wir mit dem alten VW Käfer in der Muristraße in Bern eintrafen. Zu dritt waren wir an diesem Tag aus Adelboden aufgebrochen, und dank Peters Aufmerksamkeit hatten wir auch die kleine Autopanne gut überstanden. Wir, das waren eine junge Frau aus Peters Nachbarschaft in Adelboden, mein Verlobter, Peter, und ich. Gemeinsam würden wir die nächsten neun Monate in der Offiziersschule der Heilsarmee verbringen. So genau konnten wir uns noch nicht vorstellen, was auf uns wartete. In Bern wurden wir von den Leitern und den Verantwortlichen der Schule herzlich begrüßt und aufgenommen. Damit traten wir schlagartig in eine völlig neue Welt ein. Von Stund an wurde ich zur Kadettin Wäfler, Peter zum Kadett Hari. Für mich blieb er glücklicherweise mein Peter. Kein Wunder, dass ich mich an die neue Anrede zuerst gewöhnen musste und nicht immer spontan reagierte, wenn nach mir gerufen wurde.
Das mir zugewiesene Zimmer war um einiges größer als mein sehr kleines, eigenes in Adelboden, doch musste ich es mit zwei anderen Frauen teilen. Da hatte sich eine junge, lustige Wienerin, noch nicht 20, auf ihrem Bett an der linken Wand niedergelassen und führte darauf hie und da ihre Kopfstände aus, um zu etwas Bewegung zu kommen. Eine schon etwas reifere, eher reserviert wirkende, französisch sprechende Frau um die 30 hatte auf der Gegenseite ihr Revier bezogen. Und ich, die 25-jährige Berner Oberländerin erhielt einen Platz in der Mitte. Allerdings nur während der Nacht. Mein Bett zog ich jeden Abend unter einem anderen hervor und stellte es auf die Beine. Meistens war jemand da, um mir dabei zu helfen. Tagsüber blieb mir eine Ecke des Tisches, ein Stuhl zum Sitzen – wenn er nicht gerade besetzt war –, und natürlich etwas Platz im Kleiderschrank. Das alles änderte sich nach Ablauf weniger Monate. Zunächst konnte ich in ein Zweierzimmer ziehen, und später durfte ich sogar alleine in einem Zimmer im Dachstock wohnen. Das war schon fast Luxus und mutete paradiesisch an. Das Zimmer trug ja auch den Namen „Paradies“.
Mit Peter an Hildis 26. Geburtstag in der Offiziersschule .
Unser Ausbildungsjahrgang trug den Sessionsnamen „Soldaten Jesu Christi“. Wir waren eine bunt zusammengewürfelte fröhliche Schar von 28 jungen Leuten aus der ganzen Schweiz. Fast alle Berufsgattungen waren vertreten. Das erlaubte den Männern, im Laufe der Zeit im Garten eine Baracke zu erstellen und darin zu wohnen. So erhielten wir etwas mehr Platz im Haus. Was uns alle miteinander verband, war der tiefe Wunsch, aus Liebe zu Gott und den Menschen das eigene Leben einzusetzen, ohne groß über die Vor- und Nachteile nachzudenken, die für uns daraus entstehen könnten. Alle hatten wir das gleiche Ziel: Gott und den Menschen zu dienen. Wir waren ja freiwillig gekommen und nicht einem Aufgebot/ Einberufungsbefehl der Schweizer Armee zur Rekrutenschule gefolgt. Gerade hier in der Schule konnten wir bestens unter Beweis stellen, wie ernst es uns damit war. So gehörte etwa zu unserem Kurs ein Teilnehmer mit Frau und Kind. Er hatte sein Theologiestudium an der Universität abgeschlossen und fügte sich nun mit seiner Familie willig in den ganzen Ausbildungsbetrieb ein. Außerdem unterrichtete er uns im Fach „Kirchen- und Heilsarmeegeschichte“. So lernten wir viel über die Ursprünge dieser Bewegung, die sich selbst als „Armee“ bezeichnete.
Es begann im Jahr 1865 in England mit dem Gründer William Booth und seiner Frau Catherine als „Christliche Mission Ost-London“, und wurde seit 1878 unter dem Namen „Heilsarmee“ weitergeführt. Die Anfangszeit war in England und auch später in der Schweiz von Verachtung und Verfolgung geprägt. Da konnte es schon mal faule Tomaten, Eier oder sogar Steine auf diese fürs Straßenbild ungewöhnlichen, uniformierten Gestalten regnen. In krassen Fällen landeten einzelne Anhänger dieser Armee sogar im Gefängnis. So unter anderem Catherine, die Tochter des Heilsarmeegründers. Sie hatte 1881 mit zwei jungen Kolleginnen in Paris „das Feuer“, die Arbeit in Frankreich, eröffnet und kam 1883 nach Genf. Nach heftigen Protesten und Anfangskämpfen wurde sie aus Genf verwiesen. So kam sie nach Neuenburg (Neuchâtel) und landete mit einem ihrer Mitarbeiter für zwölf Tage im Gefängnis. Nach einer Gerichtsverhandlung, in der sie sich selbst verteidigt hatte, wurde sie freigesprochen. Im Schloss Chillon am Genfersee wurde eine 21-jährige Schottin 100 Tage eingesperrt, weil sie auf öffentlichen Straßen Kinderstunden abgehalten hatte. Fast überall in der Schweiz kam es zu Verletzungen und Sachbeschädigungen.
Nach altem Muster verbrachten wir unsere Zeit in Bern in einem streng geführten Internatsbetrieb. Jeder Morgen begann in der Frühe mit einem Appell, und Frauen und Männer wohnten getrennt. Oft mussten wir in Windeseile die langen Haare aufstecken, noch in letzter Minute einen Knopf schließen und einen Kragen zurechtrücken. Für einige von uns war es stets ein Kampf mit der Zeit. Wir atmeten jedes Mal erleichtert auf, wenn alle es geschafft hatten, sich ordentlich angezogen und gekämmt in die Reihe einzuordnen. Um zehn Uhr abends mussten die Lichter gelöscht werden und man durfte nicht mehr miteinander sprechen. Manchmal half eine Taschenlampe über brenzlige Situationen hinweg – dann etwa, wenn wegen Stau im Waschraum die Abendtoilette noch nicht ganz erledigt war und der Weg ins Zimmer und ins Bett gefunden werden musste. Wenn wir allerdings spät von einem Einsatz nach Hause kamen, was ab und zu geschah, galt eine andere Regelung. Glücklich, wer sich schon in frühen Jahren an eine gewisse Disziplin im Leben gewöhnt hatte und sie sich nicht erst jetzt aneignen musste. Frühaufsteher waren eindeutig im Vorteil. Schmerzlich war, dass schon nach relativ kurzer Zeit drei sehr junge Mitschüler „unsere Familie“ verließen: ein Ehepaar, das noch nicht lange verheiratet war, und eine Frau.
Der Tagesablauf war genau geregelt und gestaltete sich mit wenigen Ausnahmen in ungefähr dieser Reihenfolge:
6.40 Uhr: |
Appell |
7.00 Uhr: |
Frühstück |
7.45 Uhr: |
Hausarbeiten (Abwasch, Esszimmer aufräumen, Böden, Treppen, Etagen inklusive Waschräume und Toiletten reinigen, Tische aufstellen für Schulbetrieb, je nach Bedürfnis auch wieder zusammenklappen und verräumen. Räume lüften, Gemüse für das Mittagessen rüsten, spezielle Aufträge. Zwischendurch noch das Reinigen unserer Zimmer, für das wir selbst verantwortlich waren.) |
8.30 Uhr: |
Persönliche stille Zeit mit der Bibel und Gebet |
9.15 Uhr: |
Schulstunde (Der Unterricht umfasste: Bibelstudium, christliche Glaubenslehre, Kirchen- und Heilsarmeegeschichte, Predigtlehre und deren praktische Anwendung, Methoden der Heilsarmee, Organisation der Heilsarmee und Verwaltung.) |
9.55 Uhr: |
Teepause |
10.15 Uhr: |
Schulstunde |
10.45 Uhr: |
Schulstunde |
11.45 Uhr: |
Tisch decken, später servieren und abräumen |
12.00 Uhr: |
Mittagessen. Anschließend Mittagspause für die einen, abräumen, abwaschen, abtrocknen und Geschirr verräumen für die diensthabenden Gruppen . |
13.30 Uhr: |
Schulstunden oder Gestaltung des Nachmittags nach speziellem Plan |
Das Abendprogramm konnte Singstunden beinhalten, persönliches Studium, ein Einsatz außer Haus oder Sonstiges . |
Wir wurden in alle Hausarbeiten – außer beim Kochen und Waschen – miteinbezogen. Hin und wieder hielten wir einen Gottesdienst im Freien ab, nahmen Kontakt mit den Zuhörern auf, sangen ab und zu in den Restaurants und beteiligten uns auch zwei Mal an den Sammlungen von Haus zu Haus. Wir machten auch während einer Woche ein Praktikum in einem der verschiedenen Sozialwerke, die zur Arbeit der Heilsarmee gehörten, sei es in einem Hilfsposten, einem Kinder-, Mädchen-Frauen- oder Männerheim. Im Vordergrund aber stand der Schulbetrieb mit seinen verschiedenen Unterrichtsfächern, inklusive Prüfungen und Bewertungen.
Читать дальше