»Wo steckt er, verdammt, das kann doch nicht sein!«, rief sein Verfolger und sah aus, als hätte er am liebsten mit den Fuß auf dem Boden gestampft wie ein wütendes Kind.
»Komm schon«, rief sein Kollege, dem dieser Auftritt vor so viel Publikum sichtlich peinlich war »das bringt doch eh nichts. Selbst wenn – es ist arschkalt, du frierst dir erst sonst was ab und hinterher der Papierkram ... Das lohnt doch alles nicht für so ’nen Autoknacker.«
»Ich hasse die Kerle«, antwortete der andere, kam aber zum Wagen zurück. »Weißt du, wie oft ich wegen denen meiner Tochter schon ’n neues Autoradio kaufen durfte?!« Er stieg ein und knallte die Tür zu.
»Hilfe!«
Die Arme über den Kopf in weit ausholender Geste schwenkend, lief ein Mann in Lederkluft auf das Polizeifahrzeug zu.
»Hilfe!«, rief er nochmals, dann ließ er zur Bekräftigung seine Pranken auf die Motorhaube runtersausen. »Meine Frau – das Baby ... Ich glaube, das Baby kommt! Und mein Wagen springt nicht an! Kommen Sie mit, sie ist dort drüben, ihr ist beim Toilettenwagen schlecht geworden!«
Die hintere Tür wurde von innen aufgestoßen, der werdende Vater sprang hinein, der Polizeisirene ging los und, in der Tat, die anderen Autos machten Platz, bildeten eine Gasse, so dass der Streifenwagen die paar Meter zum WC-Wagen beim Zelt vorpreschen konnte.
Ratte schaute ihnen kopfschüttelnd hinterher. Dann kam er aus der Hocke hoch, schulterte den Rucksack und ging zwischen all dem Blech zurück ins Gewerbegebiet auf der anderen Seite der Nüttermoorer Straße, zurück ins schützende Dunkel der halbfertigen Lagerhalle, wo der schrill bemalte Bulli auf sie wartete. Lusche zog sofort wieder schwanzwedelnd seine Schnüffelkreise. Ratte verstaute den Rucksack mit der Beute im Wagen, dann fischte er seinen Tabaksbeutel raus und begann, sich eine Zigarette zu drehen. Beide, Hund und Herrchen, benahmen sich fast so, als seien sie nach Hause gekommen. Nach der Verfolgungsjagd hatten sie die Ruhe weg. Oder doch nötig. Zumal es plötzlich ganz still war. So still, dass das flackernde Licht hinter den Fenstern im blättrig-weißen Büro- und Lagerhaus gegenüber fast schon laut wirkte.
*
Obwohl Charlie fieberhaft arbeitete, fühlte sie sich klar und ruhig. Ihr Programm hatte den Code geknackt, so dass die Daten des Buchhalters offen im Plain Text vor ihr lagen. Lange Zahlenkolonnen, die verdächtig nach Bankleitzahlen und Kontonummern aussahen, Passwörter obendrein, dazu Überweisungen samt Daten und jede Menge Initialen, hinter denen sich das verbarg, was alle – nicht nur Torben, sondern auch Charlie und ihre Kollegen beim LKA – am meisten interessierte: Namen. Namen von Kunden und Lieferanten des Drogenrings, Namen auch von Helfern und Helfershelfern, von Komplizen, insbesondere aber, so hoffte sie, die Namen des oder der Bestechlichen in den Reihen ihrer Kollegen im Drogendezernat vor Ort.
Dass es eine undichte Stelle, ein geschmiertes Rädchen im Getriebe beider Seiten, geben musste, war klar. Leer lag nah an den Niederlanden, nah auch am Meer, an den Wasserstraßen. Leer war damit für Schmugglerringe fast aller Art interessant. Und nicht nur solche, bei denen es um illegale Drogen ging, pflegten sich einen unschuldigen Anstrich zu geben. Doch derartige Schutzschilde waren temporärer Natur. Irgendwann zerbröselten sie, erweckten Verdacht, bis schließlich die Polizei ermittelte. Manchmal brauchte es mehrere Anläufe, bis genügend Beweise für Hausdurchsuchungen und die eine oder andere Festnahme da waren, manchmal reichte das schon den Tätern, und sie gestanden oder verschwanden. Manchmal reichte es dem Richter nicht. Auch das kam vor, war nicht weiter ungewöhnlich, einfach ein Teil des Spiels, wenn man es denn so nennen wollte. Doch die Geschäfte des Toutes Françaises waren unter Torbens Vorgänger zu lange zu gut gelaufen. Sicher, auch hier hatte es Verdachtsmomente und Ermittlungen gegeben, mehr als einmal waren dabei Durchsuchungsbefehle und vorläufige Festnahmen herausgekommen. Doch weiter ging nichts, denn das Toutes Françaises und seine beiden Chefs waren sauber, zumindest beweistechnisch. Dass sie nun samt ihres Buchhalters und Computerspezialisten verschwunden waren, dass Torben jetzt an ihre Stelle getreten war, sprach Bände – war aber ohne Leichen (die man vermutlich in einem Spülfeld hatte verschwinden lassen) nur ein weiteres Indiz. Damit das so blieb, damit alles floss wie gehabt, nur eben die Sahne in seiner Tasche landete, genau dafür brauchte Torben die Daten, die seine Vorgänger so sorgfältig gehütet hatten.
Und Charlie wusste, sie war kurz davor. Die entscheidenden Beweise standen vor ihr auf dem Bildschirm. Doch jetzt war wahrlich weder Zeit noch Ort, die Daten zu sichten. Jetzt musste all das gesichert und aus Torbens Reichweite geschafft werden. Sie zog eine Diskette aus ihrer Laptop-Tasche und steckte sie ins Laufwerk des alten Bürorechners. Sie musste grinsen, als sie die einzige Datei, die bislang auf dieser Diskette war, ins Rootverzeichnis des Drogencomputers kopierte: comp.hiv – so hatte Kara ihren Virus genannt. Na ja, Hagen, ihrer beider Chef und Charlies derzeit einzige Nabelschnur in ihr reales Leben, hatte als Tarnung den Pizzaservice gewählt. Man konnte bloß hoffen, er käme nie auf die Idee, selbst Hand anzulegen. Er gehörte zu den Menschen, denen selbst kochendes Wasser anbrannte. Von daher: Wie sich wer nannte, wenn es undercover ging, das hatte manchmal was von Wunschdenken oder einem Mantra. Aber Karas Virus war womöglich in der virtuellen Realität des Rechners tatsächlich so unheilbar wie HIV in der 3-D-Welt. Allerdings hätte sich Charlie ihren Tarnnamen – Mareen Steinberg – wohl kaum selbst gegeben. Nun denn. Ob als Charlie oder als Mareen, sie hatte Wichtigeres zu tun, als sich unnütze Gedanken zu machen. Sie startete einen weiteren Kopiervorgang auf dem Bürorechner, der die geknackten Dateien auf die Diskette beförderte. Laut rappelnd und ratternd arbeitete der Rechner vor sich hin. Wäre das eine gute Gelegenheit ...?
Charlie stand auf und ging zur Tür. Sie lauschte, öffnete die Tür einen Spalt breit, lauschte erneut, spähte hinaus. Alles ganz normal, jedenfalls soweit es diesen Ort und diesen Abend betraf. Die meisten waren mit ihrer Arbeit fertig. Der Glaskasten auf der gegenüberliegenden Seite des Umgangs, der als Drogenlabor benutzte wurde, war nun ein schwarzer Fleck ohne Licht und Leben. Auch unten in der Halle war es inzwischen weitgehend still und leer – die Ladehelfer hatten sich in Lieferwagenfahrer verwandelt, sofern sie nicht zum Wachpersonal gehörten. Und wo immer sich das befand, abgesehen von dem Kerl in der Pförtnerloge beim Haupttor blieben diese Leute für Charlie unsichtbar. In Torbens Glaskastenbüro waren die Lamellenjalousien immer noch geschlossen, so dass er und sein geheimnisvoller Besucher für Charlie nur als Schattenrisse zu sehen waren. Sie wäre zu gern rübergegangen, um sich selbst ein Bild zu machen. Doch das war zu riskant. Aber so nützte der Ausblick nichts – Torbens Besuch trug einen Mantel und war von durchschnittlicher Größe und Statur. Keine besonderen Kennzeichen. Aber wer außer Cyrano de Bergerac wäre noch als Schattenriss unverkennbar gewesen?
»Was wird das? Schon fertig?«
Das war Lukas, der unvermutet an sie herangetreten war. Abgehackt wie immer sprach er, als wolle er damit seine seltsam hohe Tonlage kaschieren. Charlie zuckte zusammen und schüttelte den Kopf.
»Ich kann nicht immer nur in dem Ding da hocken«, sagte sie und deutete mit dem Kopf ins Büro, während sie ihm zugleich den Blick in den Raum verstellte. Hoffte sie zumindest, denn er sollte nicht sehen, was sich auf den Rechnern tat. Obwohl – das Rattern und Rappeln hatte aufgehört.
»Ich muss weitermachen«, sagte Charlie und schlug Lukas die Tür vor der Nase zu.
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