Doch zuerst musste er sich die drei Autos anschauen, die bei der Laterne parkten: In den ersten beiden waren die Radioschächte leer, und im dritten, einem weißen Golf, gab es nur ein Billigstgerät. Ratte wollte sich schon abwenden, als er stutzte und einen zweiten Blick riskierte: Im Kassettenschacht des Radios steckte eine Kassette, aus der ein Kabel hing. Ein zweites Kabel zur Stromversorgung war in den Zigarettenanzünder eingestöpselt. Das ließ nur einen Schluss zu, was das nachlässig über die Mittelkonsole geworfene Tuch in dem ansonsten penibel aufgeräumten Wagen zu bedeuten hatte ...! Ratte setzte den Rucksack ab und griff zum Schraubenzieher. Im Handumdrehen stand die Tür offen. Er hob das Tuch – Seide, ganz zart, es roch nach einer Frau, fand er, bevor er es zur Seite legte. Darunter kam ein CD-Walkman zum Vorschein, der mittels des Kabelsalats im Radio-/ Kassettenteil als Auto-Hifi-Anlage diente. Der Walkman war mit einem Bild bedruckt; es konnte gut und gerne ein Sammlerobjekt sein. Ratte ließ es in den Rucksack gleiten und griff nach den Kabeln, um das Zubehör einzusammeln, als Lusche anschlug. Verdammt, was ... – Er schaute auf und sah, wie an der entfernteren Straßenecke ein Streifenwagen einparkte und zwei Beamte ausstiegen, die sich zu Fuß vorsichtig dem Golf näherten. Ratte schaute einen Augenblick zu den beiden Männern rüber, während seine Hände gekonnt den Rucksack schlossen, dann stieg er aus.
»Moin«, sagte er, als sei nichts. Ruhig sollten seine Bewegungen wirken, selbstverständlich. Einen Augenblick lang schien es, als gelänge der Bluff. Dann merkte er, wohin die Polizisten starrten – er hatte den Schraubenzieher noch in der Hand! Er drehte sich um, rannte los, den Rucksack halb über die linke Schulter geworfen, den Schraubenzieher noch immer in der rechten Hand.
»Hey! Halt! Stehen bleiben, sofort stehen bleiben!«, brüllte der eine Polizist, während sein Kollege zum Streifenwagen zurücklief. Ratte hielt sich nicht damit auf, einen Blick über seine Schulter zu riskieren. Dass Lusche an seiner Seite war, wie immer, wusste er auch so.
*
»Ja, weiß ich, ist aber trotzdem so. Ich hatte auch nicht damit gerechnet, dass es so schnell gehen würde. Kann nicht mehr lang dauern, ist auf jeden Fall heut Nacht gegessen, denk ich. Also, wohin soll das Zeug – Okay: kara.croft@enigma.com ... typisch ... Moment.« Charlie stoppte ihren Redefluss und schaute auf. Was nicht viel brachte, denn die Verschläge von Damentoiletten sahen überall gleich aus. Wenn man drinnen auf dem geschlossenen Klodeckel hockte, war es höchstens die Frage, ob es irgendwelche Schmierereien auf den weiß-grauen Platten gab. Hier gab es keinen Lesestoff, aber zu hören war so manches: Die Tür zum Waschraum wurde geöffnet. Schritte näherten sich Charlies Verschlag.
Sie stand auf, betätigte die Klospülung und wartete einen kleinen Augenblick. Die Schritte im Vorraum entfernten sich. Doch das Türgeräusch blieb aus.
»Genau: Dreimal Spezial, mit Artischocken. In einer halben Stunde. Klingeln Sie durch, ich komm dann raus«, sagte sie laut und deutlich ins Handy und legte auf. Sie streckte den Rücken durch, steckte das Telefon in die Hosentasche, straffte ihre Haltung einatmend noch einmal, fast wie eine Schauspielerin vor ihrem Auftritt, atmete aus und öffnete im selben Moment die Tür, als sei nichts, rein gar nichts geschehen.
»Hallo, Lukas. Fürchtet Torben, ich fall ins Klo oder rutsch auf der Seife aus, dass er mir seinen Wachhund nachschickt?«, sagte sie, ohne den durchtrainierten, dunkelhaarigen Mann anzusehen, dessen zusammengewachsene Augenbrauen seinen zumeist misstrauischen bis schlecht gelaunten Gesichtsausdruck betonten. Er stand hemdsärmlig neben den Waschbecken, die Arme vor der Brust verschränkt, aber die Waffe im Schulterholster war dennoch sichtbar. Was garantiert Absicht war, so viel wusste Charlie nach den paar Tagen mit ihm und seinem Chef. Das Spiel konnte sie auch spielen. Sie gab sich unbeeindruckt von seinen Machoposen, tat so, als bemerkte sie nichts Ungewöhnliches an dieser menschlichen Bulldogge mitten in der Damentoilette. Sie wusch sich die Hände am Becken gleich neben ihm.
»Ich hoffe, Torben mag Artischocken. Du weißt schon, diese kleinen grünen Dinger, voller Vitamine, Spurenelemente und solchen Sachen ... dieses Zeug zum Essen, du weißt schon, du kannst dich doch nicht nur von Steaks und Anabolika ernähren«, plauderte sie vor sich hin, während sie sich das Seifenwasser von den Fingern spülte und den Raum im Spiegel über dem Waschbecken im Blick behielt. »Artischocken sind übrigens auch in Frankreich sehr beliebt ... Darf ich?« Sie griff zum Papiertücherspender hinter dem Bodyguard. Er wich eine Millisekunde zu spät aus, um höflich zu wirken, doch Charlie ignorierte das wie sein bedrohliches Schweigen. Gründlich trocknete sie ihre Hände und ordnete dann einhändig ihre Locken.
»Oder hat Torben Pizza verboten, von wegen zu unfranzösisch?«, fragte sie in die Stille hinein und warf das zerknüllte Papier in den Papierkorb neben Lukas. Mist. Daneben. Sie überlegte, ob sie ihn zum »Apportieren« auffordern sollte, bückte sich dann jedoch selbst und hob elegant das Papier vom Boden auf.
Lukas nutzte die Gunst der dafür nötigen vorgebeugten Haltung und fischte das Handy aus ihrer Hosentasche.
»Pizza nicht. Fremde Handys bei der Arbeit schon.« Er hielt das Handy hoch, rief den Wahlspeicher auf. Pizza Pronto stand im Display. Charlie sah das, streckte ihm die Hand entgegen. Lukas schüttelte den Kopf und steckte das Telefon ein, das in seiner Pranke winzig wirkte. »Später. Vielleicht. Wenn Torben sagt, es ist okay.«
»Wenn Torben sagt, es ist okay«, äffte Charlie ihn nach. »Mann, brauchst du seine Erlaubnis auch zum Scheißen?«
»Nein«, sagte Lukas, und öffnete ihr die Tür auf den Gang. Er wartete, dass sie begriff und unter seinem ausgestreckten Arm durchging. »Aber du.«
*
Die beiden Polizisten hatten sich auf eine kurze Verfolgung des Diebes samt seines Hundes eingerichtet. Schließlich war er zu Fuß und sie hatten den Wagen. Doch dann stürzten sich die Flüchtigen todesmutig auf die Nüttermoorer Straße, auf der nach dem Ende der Karaoke-Fete nun Hochverkehr herrschte. Bremsen quietschten, ein Hupkonzert erscholl, der Streifenwagen steckte eingekeilt auf der Mittellinie der Straße zwischen einem Lieferwagen und zwei, drei Personenwagen fest. Hilflos mussten die Beamten zusehen, wie der Punker mit seinem Vierbeiner in der Blechlawine beim Festzelt gegenüber verschwand.
Wütend riss der uniformierte Beifahrer seine Tür auf, und rammte sie beinahe dem Lieferwagen in die Motorhaube. »Das darf doch nicht wahr sein«, schickte er den Flüchtenden entgeistert hinterher, dann wandte er sich an seinen Kollegen: »Nun tu doch was!«
Der hatte inzwischen das Fenster heruntergefahren, um den Umstehenden Anweisungen zu erteilen und so das Verkehrshindernis, das sie alle gemeinsam bildeten, wieder aufzulösen. Anscheinend hatten die anderen Fahrer Besseres zu tun, als zu gaffen – oder mehr getrunken, als ihnen gut tat, denn es dauert nur ein paar Sekunden, bis zumindest so viel Platz um den Streifenwagen entstanden war, dass der Beifahrer die Tür öffnen und rausspringen konnte. Der Beamte überquerte die Straße im Laufschritt, lief zielstrebig den vom Parkplatz strömenden Menschen entgegen.
»Hey, mach nicht so einen Aufriss«, rief sein Kollege ihm aus dem Wagen hinterher. Immerhin hatte er es gegen den Strom der Blechlawine auf den Emsparkplatz geschafft. »Der ist längst über alle Berge.«
Doch der andere hörte nicht zu. Der lief an den Fahrzeugen vorbei, leuchtete mit seiner Maglite mal in diesen Wagen hinein, mal jenen Strauch an.
Ratte hielt den Atem an. Er hockte am Boden hinter den schweren Winterreifen eines neumodischen SUVs, dessen Besitzer anscheinend noch zu tun hatte. Das Licht tastete sich immer näher an ihn und Lusche ran, und er wollte doch nicht, dass ihn der weiße Dampf seines Atems verriet, der auch den wütenden Streifenpolizisten am Ende der Taschenlampe umtanzte wie ein frecher Geist.
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