»Dem Herrn Grafen geht es sehr schlecht, mein Herr«, bekam er zur Antwort. »Man glaubt, daß er die Nacht nicht überleben wird. Die Gicht ist ihm bis ans Herz gestiegen.«
Du Roy war so betroffen, daß er nicht wußte, was er anfangen sollte! Vaudrec am Sterben! Wirre Gedanken schossen ihm durch den Kopf, die er sich selbst nicht zu gestehen wagte.
Er murmelte:
»Danke … ich werde wiederkommen.«
Aber er verstand gar nicht, was er sagte. Dann nahm er eine Droschke und fuhr nach Hause.
Seine Frau war da. Er stürzte in ihr Zimmer und sagte:
»Weißt du das nicht, Vaudrec liegt im Sterben!«
Sie hob ihre Augen vom Brief, den sie gelesen hatte und stammelte:
»Was sagst du? … Du sagst? … Du sagst? …«
»Ich sage, daß der Vaudrec stirbt. Die Gicht ist ihm bis ans Herz gestiegen.«
Dann fügte er hinzu:
»Was denkst du zu tun?«
Sie stand auf, leichenblaß, vor Erregung; über ihre Wangen lief ein nervöses Zittern. Dann fing sie an zu schluchzen und barg ihr Gesicht in die Hände. Sie stand da, weinend, das Herz zerrissen vor Verzweiflung.
»Ich … ich gehe«, sagte sie endlich. »Kümmere dich nicht um mich … ich weiß nicht, wann ich zurück sein werde … warte nicht auf mich …«
»Gut,« sagte er, »gehe!«
Sie drückten sich die Hände, und sie ging so schnell, daß sie vergaß, ihre Handschuhe mitzunehmen.
Nach dem Essen setzte sich Georges hin und schrieb einen Artikel. Er schrieb ihn genau so, wie der Minister es haben wollte, und deutete an, daß die Expedition nach Marokko nicht stattfinden würde. Dann brachte er das Manuskript auf die Redaktion, plauderte da mit seinem Chef und mit leichtem, freudigem Herzen ging er fort. Weswegen ihm so zumute war, konnte er nicht ergründen. Seine Frau war noch nicht zurück. Er legte sich zu Bett und schlief ein.
Es war gegen Mitternacht, als Madeleine zurückkam. Georges wachte plötzlich auf und setzte sich im Bett auf.
»Nun?« fragte er.
Er hatte sie noch nie so bleich und so erregt gesehen.
»Er ist tot«, flüsterte sie.
»Ah! Und … er hat dir nichts gesagt?«
»Nein, nichts. Als ich kam, hatte er das Bewußtsein verloren.«
Georges dachte nach. Tausend Fragen gingen ihm durch den Kopf, die er nicht zu stellen wagte.
»Leg’ dich hin«, sagte er.
Sie zog sich aus und legte sich neben ihn.
Er fragte:
»War jemand von den Verwandten da?«
»Nur ein Neffe.«
»So. Hat er ihn oft gesehen?«
»Niemals. Sie haben sich seit zehn Jahren nicht gesehen.«
»Hatte er noch andere Verwandte?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Dann … dieser Neffe wird wohl alles erben?«
»Ich weiß es nicht!«
»War er reich, der Vaudrec?«
»Ja, sehr reich.«
»Weißt du, was er ungefähr besessen hat?«
»Nein, nicht genau. Vielleicht eine oder zwei Millionen.«
Er sagte nichts mehr. Sie löschte das Licht aus. Sie lagen wach, in Gedanken versunken nebeneinander. Er konnte nicht mehr schlafen. Die versprochenen 70000 Francs von Frau Walter kamen ihm unbedeutend vor. Plötzlich war es ihm, als ob Madeleine weinte. Um sich zu vergewissern, fragte er:
»Schläfst du?«
»Nein«, antwortete sie mit einer weichen, zitternden Stimme.
»Ich hab’ vergessen, dir zu sagen,« fuhr er weiter fort, »daß dein Minister uns reingelegt hat.«
»Wieso denn?«
Und er erzählte ihr ausführlich die Geschichte, die zwischen Laroche und Walter vorbereitet worden ist.
Als er zu Ende war, fragte sie:
»Woher weißt du denn das?«
»Du wirst mir wohl gestatten, dir dieses zu verschweigen«, antwortete er. »Du hast deine Quellen, denen ich nicht nachforsche, ich die meinigen, und möchte auch darüber keine Rechenschaft ablegen. Ich verantworte jedenfalls die Richtigkeit meiner Nachricht.«
»Ja,« sagte sie, »es kann schon stimmen. Ich vermutete, daß sie etwas ohne uns vorbereiteten.«
Georges, der nicht einschlafen konnte, näherte sich seiner Frau und küßte ihr leise das Ohr. Sie wies ihn lebhaft ab:
»Bitte, laß mich in Frieden«, sagte sie. »Ja, ich bin heute wirklich nicht zu Kindereien aufgelegt!«
Er antwortete nichts, drehte sich zur Wand, schloß die Augen und schlief allmählich ein.
Inhaltsverzeichnis
Die Kirche war ganz mit Schwarz bezogen, und ein großes Wappenschild über dem Portal mit einer Krone darüber verkündete den Passanten, daß hier ein Edelmann beigesetzt wird.
Die Trauerfeier war zu Ende und die Gäste gingen langsam vor dem Sarge am Neffen des Grafen vorbei; er drückte ihnen die Hände und erwiderte ihre Grüße. Als Georges Du Roy und seine Frau die Kirche verlassen hatten, gingen sie langsam, schweigend nach Hause.
»Es ist wirklich merkwürdig«, sagte Georges, ohne sich zu seiner Frau zu wenden.
»Was denn, mein Freund?« fragte Madeleine.
»Daß Vaudrec uns nichts vererbt hat!«
Sie errötete plötzlich, als breitete sich ein rosa Schleier vom Hals bis zum Gesicht, und sagte:
»Warum sollte er uns was hinterlassen? Es lag doch kein Grund vor.«
Nach kurzem Schweigen fuhr sie fort:
»Vielleicht hat er ein Testament hinterlassen, das bei seinem Notar liegt. Wir können es ja noch nicht wissen.«
Er überlegte und sagte:
»Ja, das ist möglich, weil wir doch seine besten Freunde waren, wir beide. Zweimal in der Woche war er bei uns zu Tisch und kam zu jeder Stunde. Er war bei uns wie zu Hause. Er liebte dich wie ein Vater und er hatte keine Familie, keine Kinder, keine Geschwister, nur einen Neffen, einen entfernten Neffen. Ja, es muß ein Testament da sein. Ich verlange nichts Großes von ihm, nur eine Kleinigkeit, etwas, was uns beweisen wird, daß er uns liebte und an uns gedacht hatte und die Neigung zu schätzen wußte, die wir für ihn hatten. Er schuldet uns einen Beweis seiner Freundschaft.«
Sie sagte mit einer nachdenklichen gleichgültigen Miene: »Ja, es ist sehr gut möglich, daß ein Testament vorhanden ist.«
Als sie nach Hause kamen, reichte der Diener Madeleine einen Brief. Sie öffnete ihn, und überreichte ihn ihrem Mann:
»Herr Lamaneur
Notar 17, rue des Vosges
Gnädige Frau!
Ich bitte Sie ergebenst, in einer wichtigen Angelegenheit mich am Dienstag, Mittwoch oder Donnerstag von zwei bis vier in meinem Bureau aufsuchen zu wollen.
Ich verbleibe usw.
Lamaneur.«
Georges errötete und sagte:
»Das wird es sein. Es ist merkwürdig, daß er dich auffordert und nicht mich, der eigentlich der gesetzliche Familienvorstand ist.«
Sie antwortete zuerst nichts und sagte dann nach kurzem Besinnen:
»Wollen wir gleich beide hingehen.«
»Ja, ich bin bereit.«
Sobald sie gefrühstückt hatten, machten sie sich auf den Weg.
Als sie in das Bureau des Herrn Lamaneur kamen, erhob sich der Bureauvorsteher mit einer auffallenden Dienstfertigkeit und führte sie zu seinem Chef.
Der Notar war ein kleiner, vollkommen runder Mann. Sein Kopf glich einer Kugel, die auf einer anderen größeren Kugel aufgesetzt war, diese zweite Kugel wurde von zwei Beinen getragen, die ihrerseits so klein und kurz waren, daß sie auch wie zwei runde Kugeln aussahen.
Er begrüßte sie, bat Platz zu nehmen; dann wandte er sich an Madeleine:
»Madame, ich habe Sie hergebeten, um Sie von dem Inhalt des Testaments des Grafen Vaudrec in Kenntnis zu setzen, das Sie betrifft.«
Georges konnte sich nicht enthalten und flüsterte:
»So hab’ ich’s mir auch gedacht.«
Der Notar setzte hinzu:
»Ich will Ihnen gleich das Testament vorlesen, es ist übrigens ganz kurz.« Er nahm aus einer Mappe, die vor ihm lag, einen Bogen heraus und las: »Ich, Endesunterzeichneter, Paul-Emile-Cyprien-Gontran Comte de Vaudrec, gesund an Körper und Seele, bestimme hiermit meinen letzten Willen. Da der Tod uns in jedem Augenblicke treffen kann, so will ich in Voraussetzung seines Eintrittes, mein Testament niederschreiben, das bei dem Notar Lamaneur hinterlegt wird.
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