Die Menschenkenntnis hat aber noch eine andere, ebenso wichtige Seite, die sozusagen ihr soziales Gesicht ist. Es ist zweifellos, daß sich die Menschen viel besser vertragen, daß sie viel mehr aneinander heranrücken würden, wenn sie sich besser verstünden. Denn dann wäre es unmöglich, daß sie einander täuschten. In dieser Täuschungsmöglichkeit liegt eine ungeheure Gefahr für die Gesellschaft. Diese Gefahr müssen wir unseren Mitarbeitern, die wir ins Leben hineinführen, zeigen. Sie müssen fähig sein, all das Unbewußte im Leben, alle Verheimlichungen, Verstellungen, Masken, Listen und Tücken zu erkennen, um jene, auf die sie einwirken sollen, darauf aufmerksam zu machen und ihnen zu helfen. Dazu verhilft uns nur Menschenkenntnis, in bewußter Absicht betrieben.
Es dürfte auch die Frage interessieren, wer eigentlich am besten in der Lage ist, Menschenkenntnis zu sammeln und zu betreiben. Es wurde bereits erwähnt, daß es nicht möglich ist, diese Wissenschaft nur theoretisch zu betreiben. Der bloße Besitz aller Regeln genügt noch nicht, es ist auch notwendig, ihn aus dem Studium in die Praxis und in ein höheres Studium des Zusammenfassens und Verstehens hinüberzuleiten, damit das Auge schärfer und tiefer blicken lernt, als es die eigene bisherige Erfahrung gestattete. Dies ist der bewegende Grund, warum wir theoretisch Menschenkenntnis betreiben. Lebendigmachen können wir aber diese Wissenschaft erst dadurch, daß wir ins Leben hinaustreten und hier die gewonnenen Grundsätze prüfen und anwenden. Die obige Frage nun drängt sich uns deshalb auf, weil wir aus dem, was uns während der Erziehung geboten wird, viel zu wenig, vielfach auch unrichtige Menschenkenntnis schöpfen, weil somit unsere Erziehung gegenwärtig noch ungeeignet ist, brauchbare Menschenkenntnis zu vermitteln. Es ist jedem Kind allein überlassen, wieweit es sich entwickeln und aus seiner Lektüre, wie aus seinen Erlebnissen Nutzanwendungen ziehen will. Auch gibt es für die Pflege der Menschenkenntnis keine Tradition. Es gibt noch keine Lehre über sie, sie befindet sich noch in demselben Zustand wie etwa die Chemie, als sie noch Alchimie war.
Halten wir nun unter jenen Menschen, die in diesem Durcheinander unseres Erzogenwerdens die günstigste Gelegenheit haben, Menschenkenntnis zu erwerben, Umschau, so sind es jene, die noch nicht aus dem Zusammenhang gerissen sind, die noch in irgendeiner Weise den Kontakt mit den Mitmenschen und dem Leben bewahrt haben, also jene, die noch Optimisten sind oder wenigstens kämpfende Pessimisten, solche, die der Pessimismus noch nicht zur Resignation getrieben hat. Außer dem Kontakt aber muß noch das Erleben da sein. Und so gelangen wir zu dem Schluß: Wirkliche Menschenkenntnis wird bei unserer mangelhaften Erziehung heute eigentlich nur einem Typus von Menschen zukommen, das ist der »reuige Sünder«, derjenige, der entweder drinnen war in all den Verfehlungen des menschlichen Seelenlebens und sich daraus gerettet hat, oder der wenigstens nahe daran vorbeigekommen ist. Selbstverständlich kann das auch jemand anderer sein, insbesondere jener, dem man es demonstrieren konnte, oder dem die Gabe der Einfühlung ganz besonders gegeben ist. Der beste Menschenkenner wird aber sicher der sein, der alle diese Leidenschaften selbst durchgemacht hat. Der reuige Sünder scheint nicht nur für unsere Zeit, sondern auch für die Zeit der Entwicklung aller Religionen jener Typus zu sein, dem der höchste Wert zugebilligt wird, der viel höher steht als tausend Gerechte. Fragen wir uns, wieso das kommt, dann müssen wir zugeben, daß ein Mensch, der sich aus den Schwierigkeiten des Lebens erhoben, sich aus dem Sumpf emporgearbeitet hat, der die Kraft gefunden hat, alles das hinter sich zu werfen und sich daraus zu erheben, die guten und schlechten Seiten des Lebens am besten kennen muß. Ihm kommt darin kein anderer gleich, vor allem nicht der Gerechte.
Aus der Kenntnis der menschlichen Seele erwächst uns ganz von selbst eine Pflicht, eine Aufgabe, die, kurz gesagt, darin besteht, die Schablone eines Menschen, sofern sie sich als für das Leben ungeeignet erweist, zu zerstören, ihm die falsche Perspektive zu nehmen, mit der er im Leben umherirrt, und ihm eine solche Perspektive nahezulegen, die für das Zusammenleben und für die Glücksmöglichkeiten dieses Daseins besser geeignet ist, eine Denkökonomie, oder sagen wir, um nicht unbescheiden zu sein, auch wieder eine Schablone, in der aber das Gemeinschaftsgefühl die hervorragende Rolle spielt. Wir haben gar nicht die Absicht, zu einer Idealgestaltung einer seelischen Entwicklung zu gelangen. Man wird aber finden, daß oft schon der Standpunkt allein dem Irrenden und Fehlenden eine enorme Hilfe im Leben ist, weil er bei seinen Irrtümern die sichere Empfindung hat, in welcher Richtung er fehlgegangen ist. Die strengen Deterministen, die alles menschliche Geschehen von der Aufeinanderfolge von Ursache und Wirkung abhängig machen, kommen bei dieser Betrachtung durchaus nicht zu kurz. Denn es ist sicher, daß die Kausalität eine ganz andere wird, daß die Auswirkungen eines Erlebnisses völlig andere werden, wenn im Menschen noch eine Kraft, noch ein Motiv lebendig wird, die Selbsterkenntnis, das gesteigerte Verständnis dessen, was in ihm vorgeht und aus welchen Quellen es stammt. Er ist ein anderer geworden und kann sich dessen wohl niemals mehr entschlagen.
I. Kapitel:
Die Seele des Menschen
Inhaltsverzeichnis
1. Begriff und Voraussetzung des Seelenlebens
2. Funktion des seelischen Organs
3. Zielstrebigkeit im Seelenleben
1. Begriff und Voraussetzung des Seelenlebens
Inhaltsverzeichnis
Beseelung schreiben wir eigentlich nur beweglichen, lebenden Organismen zu. Die Seele steht in innigster Beziehung zur freien Bewegung. Bei Organismen, die festwurzeln, gibt es kaum ein Seelenleben, es wäre für sie auch ganz überflüssig. Man muß nur die Ungeheuerlichkeit bedenken, einer festwurzelnden Pflanze Gefühle und Gedanken zuzumuten, die, während sie über Bewegung in keiner Weise verfügen könnte, etwa Schmerz erwarten sollte, die sie voraussähe, vor denen sie sich aber nicht hüten könnte, oder wenn man annehmen wollte, daß eine Pflanze der Vernunft, des freien Willens teilhaftig wäre, während es von vornherein ausgeschlossen ist, daß sie diesen Willen je gebrauchen könnte. Ihr Wille, ihre Vernunft bliebe ewig unfruchtbar.
So sehen wir, wie scharf in dieser Beziehung durch den Mangel eines Seelenlebens die Pflanze vom Tier zu unterscheiden ist und merken auf einmal die ungeheure Bedeutung, die im Zusammenhang von Bewegung und Seelenleben gelegen ist. Dieser Gedankengang legt uns auch nahe, daß in der Entwicklung des Seelenlebens alles erfaßt werden muß, was mit der Bewegung zusammenhängt, daß an alle Schwierigkeiten einer Ortsveränderung bereits angeknüpft werden kann, daß dieses Seelenleben berufen ist, vorauszusehen, Erfahrungen zu sammeln, ein Gedächtnis zu entwickeln, um es für die bewegliche Praxis des Lebens brauchbar zu machen.
Wir können also zuerst feststellen, daß die Entwicklung des Seelenlebens an die Bewegung gebunden ist, und daß der Fortschritt alles dessen, was die Seele erfüllt, durch diese freie Beweglichkeit des Organismus bedingt ist. Denn diese Beweglichkeit reizt, sie fördert und verlangt eine immer stärkere Intensivierung des Seelenlebens. Stellen wir uns jemand vor, dem wir jede Bewegung untersagt hätten; sein gesamtes Seelenleben wäre zum Stillstand verdammt. »Nur die Freiheit brütet Kolosse aus, während der Zwang tötet und verdirbt.«
2. Funktion des seelischen Organs
Inhaltsverzeichnis
Wenn wir von diesem Gesichtspunkt aus die Funktion des Seelenlebens überblicken, so wird uns klar, daß hier die Entwicklung einer angeborenen Fähigkeit vor uns liegt, die ausersehen ist, ein Angriffs-, Abwehr- oder Sicherungs-, ein Schutzorgan vorzustellen, je nachdem, ob die Situation eines Lebensorganismus den Angriff oder die Sicherung verlangt. Wir können also ein Seelenleben nur betrachten als einen Komplex von Angriffsund Sicherungsvorkehrungen, die auf die Welt rückzuwirken haben, um den Bestand des menschlichen Organismus zu gewährleisten und seine Entwicklung sicherzustellen. Ist diese Bedingung einmal festgehalten, dann ergeben sich weitere Bedingungen, die für die Erfassung dessen, was wir als Seele betrachten wollen, wichtig sind. Wir können uns ein Seelenleben, das isoliert ist, nicht vorstellen, sondern nur ein Seelenleben, das mit allem, von dem es umgeben ist, verknüpft ist, das Anregungen von außen aufnimmt und irgendwie beantwortet, das über Möglichkeiten und Kräfte verfügt, die nötig sind, um den Organismus gegenüber der Umwelt oder im Bunde mit ihr zu sichern und sein Leben zu gewährleisten.
Читать дальше