»Kein Verbrechen, wohl aber ein großer Irrtum hat hier stattgefunden«, sprach Holmes. »Sie hätten besser daran getan, Ihrer Frau zu vertrauen.«
»Nicht um meiner Frau, sondern um meiner Kinder willen ist’s geschehen«, stöhnte der Gefangene. »Wahrhaftiger Gott, sie sollten sich nicht ihres Vaters wegen schämen müssen. O Gott, welche Schmach! Was kann ich machen?«
Sherlock Holmes setzte sich zu ihm aufs Bett und legte ihm freundlich seine Hand auf die Schulter.
»Wenn Sie es dem Gerichtshof überlassen, die Sache zu erledigen«, sagte er »so wird sie natürlich an die Öffentlichkeit kommen. Vermögen Sie dagegen der Polizeibehörde zu beweisen, daß keinerlei Grund zu einer Anklage gegen Sie vorliegt, so weiß ich nicht, wie diese Geschichte ihren Weg in die Presse finden sollte. Wachtmeister Bradstreet wird gewiß bereit sein, alles niederzuschreiben, was Sie uns sagen wollen, und hernach Ihre Aussagen der betreffenden Behörde mitteilen. Auf diese Weise gelangt dann der Fall gar nicht an den Gerichtshof.«
»Gott segne Sie!« rief der Gefangene leidenschaftlich aus. »Gefängnis, ja Hinrichtung hätte ich eher ausgehalten, als daß ich mein erbärmliches Geheimnis verraten und Schande über meine Kinder gebracht hätte.
Sie sind die ersten, denen ich meine Geschichte erzähle.
– Mein Vater war Schullehrer in Chesterfield, wo ich eine ausgezeichnete Erziehung erhielt. In meiner Jugend machte ich Reisen, ging zur Bühne und wurde schließlich Berichterstatter für ein Londoner Abendblatt. Eines Tages wünschte der Leiter unserer Zeitung einige Artikel über das Bettlertum in London, und ich verpflichtete mich, sie ihm zu liefern. Dies war der Ausgangspunkt für alle meine Abenteuer. Nur wenn ich das Bettlerhandwerk selbst versuchte, konnte ich ja das nötige Material für meine Artikel erhalten. Als Schauspieler war ich natürlich in alle Geheimnisse der Verkleidung eingeweiht, ja, ich war seiner Zeit unter meinesgleichen wegen meiner Verstellungskunst berühmt gewesen. Jetzt kam mir meine Geschicklichkeit zu gute. Ich schminkte mir das Gesicht, und um mich so bemitleidenswert als möglich zu machen, malte ich mir eine tüchtige Schramme hin und zog die Oberlippe mit einem schmalen Streifen fleischfarbenen Heftpflasters in die Höhe. Des weiteren noch mit einer roten Perücke und entsprechender Kleidung ausgestattet, stellte ich mich im belebtesten Stadtteil auf, zum Schein als Streichholzhändler, in Wahrheit aber als Bettler. Sieben Stunden lag ich meinem Geschäfte ob, und als ich am Abend heimkehrte, entdeckte ich zu meiner Überraschung, daß ich nicht weniger als sechsundzwanzig Schilling und vier Pence ersammelt hatte.
Ich schrieb meine Artikel und dachte wenig über die Sache nach, bis ich bald darauf für einen Freund einen Wechsel von 25 Pfund, den ich unterschrieben hatte, einlösen mußte. Ich war völlig ratlos, wo ich das Geld auftreiben sollte, da kam mir plötzlich ein rettender Gedanke. Mein erstes war, den Gläubiger um vierzehn Tage Verlängerung anzugehen, dann erbat ich mir Urlaub und verbrachte diese Zeit in meiner einstigen Verkleidung als Bettler in der Stadt. In zehn Tagen war das Geld beisammen und meine Schuld bezahlt.
Nun können Sie sich denken, wie schwer es mir ankam, mich wieder zu angestrengter Arbeit mit einem wöchentlichen Gehalt von zwei Pfund zu bequemen, da ich doch wußte, daß mir ein bißchen Schminke, Stillesitzen und die Mütze auf die Erde stellen an einem einzigen Tage ebensoviel eintrug. Zwischen meinem Stolz und meiner Geldgier entstand ein langer Kampf, bei dem schließlich die letztere den Sieg davontrug. So hängte ich denn die Zeitungsschreiberei an den Nagel und saß Tag für Tag in der Ecke, die ich mir gleich zu Anfang ausersehen hatte, erregte durch mein jammervolles Aussehen Mitleid und füllte meine Taschen mit Kupfermünzen. Nur ein einziger Mensch wußte um mein Geheimnis. Er war Inhaber einer elenden Kneipe in der Swandamstraße, wo ich einkehrte, um von dort jeden Morgen als schmutziger Bettler hervorzugehen und mich abends wieder zum wohlanständigen Städter umzuwandeln. Dieser Mensch, ein eingewanderter Malaie, wurde von mir für sein Zimmer gut bezahlt, und somit wußte ich, daß mein Geheimnis bei ihm wohl verwahrt blieb.
Sehr bald zeigte es sich, daß ich ganz bedeutende Summen einnahm. Ich glaube kaum, daß jeder Straßenbettler in London siebenhundert Pfund im Jahr zusammenbringen kann – und dies ist weniger als meine Durchschnittseinnahme betrug –, aber mir kam der Umstand zu statten, daß ich mich außergewöhnlich gut herrichten konnte und stets eine schlagfertige Gegenrede bereit hatte, eine Fähigkeit, die mit der Zeit zunahm, so daß ich schließlich zu einer stadtbekannten Persönlichkeit wurde. Eine Menge Kupfermünzen, mit Silberstücken gemischt, flossen mir im Laufe des Tages zu, und schlecht war die Einnahme, wenn sie einmal unter zwei Pfund betrug.
Mit dem Reichwerden nahm auch der Ehrgeiz zu. Ich bezog ein Landhaus, heiratete sogar, und niemand hatte eine Ahnung von meiner eigentlichen Beschäftigung. Meine gute Frau wußte, daß ich in der Stadt zu tun hatte. Was es aber war, vermutete sie nicht.
Letzten Montag hatte ich mein Tagewerk eben beendigt und kleidete mich in meinem Zimmer über der Opiumkneipe um, als ich aus dem Fenster sah und zu meinem Staunen und Entsetzen bemerkte, daß meine Frau auf der Straße stand und mich fest ins Auge gefaßt hatte. Ich stieß einen Schrei der Überraschung aus, erhob die Hände, um mein Gesicht zu verhüllen, und stürzte zu dem Wirt, meinem Vertrauten, um ihn anzuflehen, doch ja niemand einzulassen. Wohl hörte ich ihre Stimme von unten, doch wußte ich, daß sie nicht heraufkommen könne. Schnell warf ich meine Kleider von mir, zog mein Bettlergewand an, schminkte mich und stülpte die Perücke auf. Selbst das Auge der eigenen Frau vermochte diese vollständige Verwandlung nicht zu durchschauen. Aber dann fiel mir ein, daß das Zimmer durchsucht werden und die Kleider mich verraten könnten. Eilig riß ich das Fenster auf, und bei dieser heftigen Bewegung öffnete sich eine kleine Wunde wieder, die ich mir an jenem Morgen in meinem Schlafzimmer zugezogen hatte. Dann ergriff ich meinen Rock, beschwerte ihn mit den Kupfermünzen, die ich aus der Ledertasche nahm, in der ich mein Erworbenes wegzutragen pflegte, und schleuderte ihn zum Fenster hinaus, wo er in der Themse verschwand. Die anderen Kleidungsstücke sollten folgen, aber im selben Augenblick hörte ich von der Treppe her das Nahen von Schutzleuten, und wenige Minuten nachher wurde ich zu meiner großen Erleichterung, ich muß es bekennen, anstatt als Neville St. Clair erkannt zu werden, als dessen Mörder festgenommen.
Es wird wohl kaum weiterer Aufklärungen bedürfen. Ich war fest entschlossen, meine Maske so lange als möglich beizubehalten, und daher also kam meine Vorliebe für das schmutzige Gesicht. Da ich wohl wußte, daß meine Frau entsetzlich in Angst sein würde, zog ich meinen Ring ab und vertraute ihn dem Malaien in einem Augenblick an, als mich gerade kein Polizeimann beobachtete, zugleich mit einem eiligst beschriebenen Fetzen Papier an meine Frau, der ihr sagen sollte, daß kein Grund zur Sorge vorliege.«
»Dieser Zettel erreichte sie erst gestern«, sagte Holmes.
»Großer Gott! Welche angstvolle Woche muß sie verbracht haben!«
»Die Polizei hat den Wirt bewacht«, erklärte der Wachtmeister, »und ich kann mir wohl denken, daß es ihm schwer genug geworden ist, den Brief unbeobachtet zur Post zu bringen. Wahrscheinlich hat er ihn irgend einem Matrosen seiner Kundschaft übergeben, der ihn wohl ein paar Tage lang vergessen haben mag.«
»Ja, ja,« sagte Holmes mit zustimmendem Kopfnicken, »ohne Zweifel war es so. Doch, sind Sie nie wegen Bettelns belangt worden?«
»Freilich, oftmals; aber was kümmerte mich eine Geldstrafe?«
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