I. Gang
Wissen und Nichtwissen
Das disruptive Spiel beginnt
II. Gang
Routinen und Nichtroutinen
Die kreative Revolution erfasst die Organisation
III. Gang
Maschinen und Menschen
Wer bestimmt über unsere Zukunft?
In allen drei Gängen geht es zunächst um das Beobachten und Beschreiben typischer disruptiver Entwicklungen und Innovationen. Nämlich:
allgemein auf den Märkten und in der Wirtschaft (I),
mit Blick auf die Organisation und auf die Zusammenarbeit (II),
im Hinblick auf das künftige Zusammenspiel von Mensch und Maschine (III).
Daraus abgeleitet nehmen wir anschließend in allen drei Gängen mögliche praktische Schlussfolgerungen und Hilfestellungen durch nützliche Tools in den Blick:
zur mentalen Vorbereitung für die Strategie- und Innovationsarbeit (I),
für die Transformation der Organisation (II),
für die Kulturentwicklung (im weitesten Sinne) und für unsere eigene Entwicklung (III).
Oder noch kürzer: Zunächst sprechen wir über die Narrative , dann über die Imperative – die möglichen praktischen Imperative der Disruption.
Doch dies sind nur vorläufige Strukturierungen. Also nichts, was man in irgendwelche Kästchen oder Schubladen packen könnte. Das Thema Disruption lässt sich nicht kästchenförmig katalogisieren, wie wir noch sehen werden. Es hat eher etwas mit dem Aufsprengen der Kästchen zu tun. Disruptionen bringen Tools und Kataloge durcheinander.
Disruptionen ähneln Erdbeben. Erdbeben kann man bekanntlich nicht vorhersagen. Man kann erdbebengefährdete Gebiete benennen, Gesteinsschichten analysieren, immer genauere Messungen durchführen etc. Aber man kann nicht exakt wissen, wo und wann die Erde beben wird.
Disruptive Thinking reflektiert dies: Wir können nicht genau sagen, wo und wie sich die nächste Disruption ereignen wird – wir können technologische, wirtschaftliche und soziale Entwicklungsmuster aufzeigen, damit wir nicht blind in irgendetwas hineinlaufen. Wir können Gestaltungsvorschläge machen, damit wir uns besser vorbereiten können. Aber das eigene Denken, das Entscheiden und die Übernahme von Verantwortung unter den Bedingungen zunehmender Ungewissheit – das kann uns niemand abnehmen.
Auch deshalb arbeitet Disruptive Thinking mit Fragen und mit Spannungsfeldern: Wissen und Nichtwissen, Routinen und Nichtroutinen, Maschinen und Menschen. Disruptive Thinking begnügt sich nicht mit einseitigen Bestimmungen. Nur Wissen, Routinen und Maschinen – das ist nicht genug. Das hieße, einseitig auf Gewissheiten, auf Zwangsläufigkeiten zu setzen. Sie lassen keine Wahl mehr. Da gibt es nichts mehr zu entscheiden. Nur noch zu exekutieren. Die Wege der digitalen Transformation scheinen vorherbestimmt. Manche hätten das gerne. Ich halte es für sachlich unrichtig, strategisch unzulässig und praktisch fahrlässig. Das unterscheidet Denken von bloßem Nachvollziehen des bereits Vorgedachten, also vom unreflektierten Gebrauch von Gefertigtem. Nach dem Motto von Friedrich Dürrenmatt: »Brauchbar ist eine Maschine erst dann, wenn sie von der Erkenntnis unabhängig geworden ist, die zu ihrer Erfindung führte.« Das ist hier nicht gemeint. Das hilft nicht, wenn man Neuland erschließen will. Disruptive Thinking setzt auf das Selbstdenken. Mit kreativem Vertrauen und Vergnügen. Neugierig, experimentell, vernetzt, bewusst und verantwortlich.
Wenn ich von Nichtwissen spreche, dann ist das nicht tiefsinnig gemeint, sondern ganz unmittelbar, konkret und praktisch.
Ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit Zukunftsfragen, mit Innovationen und mit dem Thema Transformation. Ich habe im Silicon Valley mit Pionieren der digitalen Ära bereits in einer Zeit gesprochen, als viele noch glaubten, Apple wäre eine Nischenfirma. Ich habe viele Veränderungsprozesse von Unternehmen begleitet und zahlreiche Innovationsworkshops, Zukunftswerkstätten und Leadership-Programme durchgeführt.
Manchmal, ich gestehe es, habe ich gedacht, mich könnte nichts mehr überraschen. Doch in den letzten Jahren ertappe ich mich oft bei der Wahrnehmung: Das Tempo der Veränderungen nimmt in unheimlicher Weise zu. Die Verdrängung von Altem durch Neues passiert in immer kürzeren Abständen. Täglich. Stündlich. Minütlich. Viele Leser werden das Gefühl kennen. Und das hat mit unserem Thema zu tun. Disruptionen, Brüche und Umbrüche, wohin wir schauen. Nicht nur in der Technik. Nicht nur auf dem Gebiet der Wirtschaft. Und immer häufiger müssen wir zugeben: Das wissen wir nicht. Oder wussten es bis gestern nicht.
Das heißt auch: Manches Faktum, das ich auf den folgenden Seiten schildere, kann überholt sein, wenn Sie als Leserin oder Leser dieses Buch in den Händen halten. Die Veränderungsgeschwindigkeit ist so hoch, dass bereits morgen ein neues Geschäftsmodell oder ein neues Unternehmen das Neue von heute alt aussehen lassen kann. Das ist ein Wesenszug dieser disruptiven Zeit. Bisweilen scheinen sich die Ereignisse zu überschlagen. Wir kommen kaum noch nach. Auch deshalb ist das Anerkennen des Nichtwissens im Wissen so wichtig für disruptives Denken. Es ist eine Voraussetzung zur Meisterung dieser kreativen Revolution.
Besonders relevant ist es für Manager und Führungskräfte, die heute über Zukunftsstrategien und langfristige Investitionen zu entscheiden haben. Etwa in der Automobilindustrie. Heute müssen sie entscheiden, welche Modelle in vier oder fünf Jahren auf den Markt kommen. Ich habe mit mehreren Automobilmanagern darüber gesprochen und immer wieder gehört, wie schwer ihnen diese Entscheidung fällt. Auch die beste Szenarienarbeit, auch die beste Research-Tätigkeit der klügsten Innovationsteams vermögen daran nicht zu ändern.
Das ist keine neue Erkenntnis für all diejenigen, die sich mit Komplexität und mit dem Thema Entscheiden unter Bedingungen der Unsicherheit beschäftigen: »Nur die prinzipiell unentscheidbaren Fragen können wir entscheiden«, hat der österreichische Physiker Heinz von Foerster einmal so schön formuliert. Doch diese Erkenntnis erschien manchmal etwas theoretisch. Heute, in diesen disruptiven Zeiten, besitzt sie praktische Sprengkraft.
Man kann das negativ sehen, als Verlust von Wissen. Man kann es aber auch anders sehen: als Zugewinn für unseren Realitätssinn, verbunden mit der Aufforderung, mehr und intensiver zu fragen und eine neue Achtsamkeit im Führungsalltag zu entwickeln. »To be prepared for the unexpected!« Das meint Disruptive Thinking: das Nichtwissen trainieren, experimentieren und dabei eine neue Form der Achtsamkeit entwickeln. Das kann vielleicht dazu führen, dass wir uns von manchem lösen, was wir in Zukunft nicht mehr brauchen, und dafür manches entwickeln, was überraschend einfach ist.
Das Einfache wird schwer zu machen sein. Denn die sich wandelnde Welt ist ein Playground und zugleich ein Battleground. Das klingt martialisch. Aber so wird in manchen amerikanischen Tech-Companies geredet. Viele sind dort in einem kulturellen Milieu aufgewachsen, in dem die Game Industry keine unerhebliche Rolle spielt und die TV-Serie House of Cards als eine Spiegelung der Realität empfunden wird. Diese Dimension der Transformation sollten wir nicht unterschätzen.
Natürlich kann man fragen: Was soll das? Wir müssen in der digitalen Transformation erst unsere Pflicht erfüllen. Diese Auffassung ist ehrenwert und nachvollziehbar. Und die Hausaufgaben sind bekannt. Zum Beispiel eine saubere Stärken-Schwächen-Analyse durchführen und sich fragen: Wie weit sind wir mit dem Thema Digitalisierung in der Organisation? Wo sind wir gut, wo nicht so gut? Wo könnten welche Wettbewerber aus welchen Branchen disruptiv angreifen? Wie können wir uns davor schützen? Haben wir eine klare Vision und strategische Ausrichtung? Wie weit ist die Organisation einbezogen? Wie weit arbeitet sie schon vernetzt – und zwar nicht nur horizontal, sondern auch vertikal vernetzt? Brauchen wir neue Organisationseinheiten, die mit einem ganz neuen strategischen Ansatz arbeiten? Welche Mitarbeiter brauchen wir für den künftigen Weg? Haben wir genügend gute Softwareentwickler und genügend Teamplayer in unseren Reihen?
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