»Hammer!«
»Die Gläubiger haben noch ein bisschen was bekommen, ich habe meinen Kopf hingehalten, obwohl ich selber betrogen worden war. Alles weg. Fast alles. Mit zwei Sporttaschen, also meinem kompletten Eigentum, bin ich bei meiner neuen Freundin eingezogen.«
»Was, und die hat dich reingelassen? Bist du dir nicht vorgekommen wie ein Straßenköter, der von einer Tierschützerin mit Helfersyndrom aufgesammelt worden ist?« Victor kann es wohl noch nicht so recht fassen, aber er ist fasziniert.
»Nein, ganz und gar nicht. Ich war klar. Ich wusste genau, was ich wollte. Ich habe nach meinen Grundüberzeugungen gehandelt und ich hatte einen Plan, was ich künftig tun wollte. Ich war selbstbewusst. Und deshalb alles andere als unattraktiv. Meine Freundin hat kein Helfersyndrom und nimmt keine streunenden Hunde auf. Nein, ich war voller Energie. Der Neustart hatte schon begonnen.«
»Ich muss schon sagen, das finde ich ganz schön mutig. Ich meine …«
»Ich weiß nicht, ob es mutig ist, nach seinen Überzeugungen zu leben. Problematisch ist vielmehr, sich seiner Überzeugungen gar nicht bewusst zu sein. Wenn du weißt, was du willst, gibt es ja ohnehin keinen anderen Weg als deinen eigenen. Das ist dann kein Mut, sondern einfach nur Klarheit, Bewusstsein, Bei-sich-Sein.«
»Also, am unglaublichsten finde ich an der Sache, dass deine Freundin kein Problem damit hatte, dass du fertig warst.« Victor hält sein Longdrink-Glas wieder fest umklammert. Noch will er nicht loslassen.
Ich kontere: »Weißt du, das sagt doch jetzt mehr über dich als über mich. Warum glaubst du, dass ich fertig war, nur weil ich kein Geld mehr hatte? Ich habe das nicht geglaubt. Ich war nicht fertig, ich fing gerade erst richtig an. Und weil ich das glaubte, glaubte mir das auch meine Freundin. Frauen wollen Männer, die für etwas stehen, egal für was. Und die für sich einstehen. Und ich bin gestanden. Klar, das war nicht so einfach. Da gab es Gegenwind. Ihr Vater zum Beispiel hat schon Fragen gestellt. Ein Schwiegervater in spe steht nicht gerade drauf, wenn seine Tochter einen Typen hat, der zwei Kinder mitbringt und finanziell am Boden liegt. Aber auch ihm gegenüber habe ich mit offenen Karten gespielt. Und siehe da: Auch der hat das akzeptiert.«
Jetzt schaut Victor nachdenklich ins Leere und spielt an seinem Strohhalm rum. Ich denke, er braucht mal eine Pause. Ich gehe in den Keller, die Chips sind aus.
Als ich wieder hochkomme,
sitzt er immer noch da wie eine Statue. Ich gehe durch den Raum, sammle die Schälchen von den Tischen ein, kümmere mich um die paar Gäste, nehme zwei Bestellungen auf, komme zurück, stelle ein Espresso-Glas unter die Fiorenzato, schäume Milch für einen Cappuccino und frage Victor Wodka dreist: »Was ist dir wichtiger: deine Aufrichtigkeit oder keinen Ärger mit deiner Frau zu riskieren?«
Ich bringe die beiden Kaffees raus. Komme zurück, säubere die Chipsschälchen und frage: »Was ist dir wichtiger: dein Einkommen oder deinen Kindern gerade in die Augen sehen zu können?«
Ich kippe die Chips in die Schälchen und stelle die Schälchen aufs Tablett. Und frage: »Was ist dir wichtiger: tun, was du wirklich tun willst, oder deine Frau behalten?«
Ich trage das Tablett in den Raum und verteile die Schälchen, räume ein wenig auf und scherze mit einem Gast. Ich komme zurück und frage ihn: »Was ist dir wichtiger: dein …«
»Hör schon auf! Ich hab’s ja kapiert!«, knurrt er und blitzt mich an. Holla, da kommt ja die Energie wieder zurück. Die Akkus scheinen noch nicht ganz leer zu sein.
Er zahlt und geht. Ich freue mich darauf, wenn er wiederkommt.
Wenn.
Ich habe selbst mehrmals erlebt, wie das ist, wenn dein Wertesystem durch-sortiert wird. Ein Zuckerschlecken ist das nicht. Aber daran führt kein Weg vorbei, wenn man im Nebel stochert, so wie Victor. Wenn man nicht weiß, was man wirklich will, was einem wirklich, wirklich wichtig ist.
Ich war vor Jahren einmal in einem Seminar, als Teilnehmer, in Österreich. Lauter Business-Typen, auch der Trainer war so ein Managertyp, er ist übrigens heute noch im Geschäft und einer der Topleute der Branche. Das Seminar lief gut, ich fühlte mich wie ein Fisch im Wasser. Es kam, wie es kommen musste, die Grabrede-Übung war dran. Ich hatte die Übung bis dahin noch nie selbst gemacht, kannte sie nur aus dem einen oder anderen Buch. Ich wusste also, wie es geht und was da passiert, hatte mich aber immer schön davor gedrückt, mich selbst ins Visier zu nehmen.
Die Übung geht, kurz gefasst, so: Sie stellen sich vor, eines traurigen, trüben Tages frisch verstorben zu sein. Sie liegen im Sarg, der neben der frisch ausgehobenen Grube auf dem Friedhof darauf wartet, versenkt zu werden. Die Trauergemeinde ist da, Familie, Freunde, Kollegen, Umfeld. Sie suchen sich vier Personen raus, je eine aus diesen vier Kreisen. Ihre Aufgabe: Sie verfassen vier Grabreden über sich selbst, eine für jeden dieser vier Menschen. Was sollten – aus Ihrer Sicht – diese Menschen einmal berechtigterweise über Sie sagen können?
Ich fing also an, wählte aus dem Kreis der Familie meinen Sohn aus, meinen Zweitältesten, der damals gerade ein halbes Jahr alt war. Ich stellte mir vor, er sei zum Zeitpunkt meines Todes schon erwachsen, er stünde am Grab und erzähle von mir. Was sein Vater für ein toller, erfolgreicher Mann gewesen war, was er alles gut gekonnt hatte. Wie gut er dies oder jenes draufhatte. Es floss mir nur so aus der Feder. Welche positiven Charaktereigenschaften er so an den Tag gelegt hatte, wie beliebt er gewesen war und so weiter … und dann wörtlich: »Nur schade, dass ich keine Chance hatte, meinen Vater wirklich kennenzulernen, denn er hatte ja nie Zeit.«
Ich sage Ihnen, ich habe Rotz und Wasser geheult, musste die Übung sofort abbrechen. Meine Güte, das brach nur so aus mir raus. Und wenn dich so etwas dermaßen ankickt, dann hat das was zu sagen.
Zu dieser Zeit war ich nämlich mitten in der Firmengründung, hatte tausend Sachen um die Ohren, habe gerödelt ohne Ende, um das Unternehmen ans Laufen zu bekommen, machte mein Ding. Und habe dabei voller Schwung mein Wertesystem auf den Kopf gestellt, denn meine Kinder kamen in diesem Spiel nicht vor. Wäre ich damals tatsächlich gestorben, hätte auf meinem Grabstein stehen können: Er gab alles für die Arbeit – und nichts für den Rest.
Nach diesem Seminar habe ich zwar mein Leben nicht radikal umgestellt, aber mir war klar, ich brauchte mehr Zeit für meine Jungs, ich musste die Balance anders gestalten. Und das habe ich bis heute durchgehalten. Auch als ich dann pleite war, die Beziehung zu meiner Frau kaputt, die Firma kaputt und auch die Beziehung zu meiner Bank einen irreparablen Schaden erlitten hatte, bin ich klar geblieben. Ich bin mit geliehenem Geld fünfmal im Jahr nach Brasilien geflogen, wo meine Ex und meine Kinder zu der Zeit lebten. Ich habe mich schwer überwinden müssen, Freunde um Geld anzupumpen, das kann ich Ihnen verraten. Dieser Stolz, niemandem auf der Tasche zu liegen, stand auf meiner Werteskala zwar weit oben, aber nicht so weit oben wie meine Kinder. Zur Not hätte ich Gesetze gebrochen, wäre nach Brasilien als blinder Passagier auf einem Frachter mitgefahren, nur um meine Jungs zu sehen.
Aus den Werten folgen die Gedanken und aus den Gedanken die Handlungen. Wenn Victor mit seiner Frau nicht Tacheles redet über das, was ihn umtreibt, wenn er sich scheut, bei seinen Kindern zu sein, wenn er im Job gute Miene zum bösen Spiel macht, dann nicht deshalb, weil er ein gefühlloses Arschloch ist, sondern weil er nicht weiß, wie sein Wertesystem funktioniert. Oder anders gesagt: Er weiß nicht, was ihm wirklich wichtig ist. Oder nochmal anders gesagt: Ihm ist nicht bewusst, wer er eigentlich ist. Er hat kein Bewusstsein für sein Selbst. Er hat kein Selbstbewusstsein.
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