Wieder im Flur, hielt er inne. Musste er nicht wenigstens eine Nachricht hinterlassen? Er betrachtete den Notizblock auf der Kommode in der Diele. Wie üblich lagen die beiden Kugelschreiber parallel zu seiner Kante bereit – der blaue für gewöhnliche Notizen, der rote für besonders dringliche Mitteilungen, deren Beachtung keinerlei Aufschub duldete. Er nahm den roten Stift in die Hand und dachte nach. Was sollte er denn schreiben? Hallo Mama, ich bin völlig ramponiert, ich muss mich verkriechen, es wird Aufregung geben? Er legte den Stift wieder hin. Nein, keine Nachricht heute.
Behutsam schob er sich den Rucksack über die Schulter, holte eine alte Decke aus der Abstellkammer und machte sich auf den Weg.
Viel schwerer als früher fiel es ihm, die Stalltür zu öffnen. Die Kühe muhten laut, als er eintrat, liefen durcheinander, die einen zu den Futtertrögen, die anderen Richtung Melkstand, sie wateten in ihrem eigenen Dreck. O Mann, wechselte denn der Götzl jetzt nicht mal mehr das Stroh aus? So hatte es hier doch damals nicht gestunken. Jacob legte eine Hand vor Mund und Nase, aber dennoch nahm eine quälende Übelkeit ihn mit jedem Atemzug stärker in Besitz. Götzls grauweiße Katze lief auf ihn zu, strich ihm um die Beine. Unmöglich, sich zu bücken, um sie zu streicheln. Mit dem Fuß schob er sie sachte beiseite und schleppte sich vorwärts, erblickte die Leiter, die zum Heuboden hinaufführte, schaute nach oben. War das immer schon so hoch gewesen? Umständlich klemmte er sich die Decke unters Kinn, umfasste die Leiter mit beiden Händen. Komm schon, du schaffst das, feuerte er sich an, als er die erste Sprosse erklomm. Wieder stach ihm der Schmerz in die linke Seite. Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen, und nun war es nicht mehr aufzuhalten. Er ließ die Decke fallen, eilte so schnell es ging zum nächsten Futtertrog und erbrach sich hinein. Das Würgen war ekelhaft, und doch kam es ihm richtig vor. Die Sache mit Philipp, die Schläge und Tritte am Weiher, das gestohlene Handy; zum Kotzen war das alles, raus damit, zum Kotzen das ganze Leben in diesem Nest, raus, raus, igitt.
Als nichts mehr aus seinem Magen nach oben drängte, schlurfte er zum Wasserhahn und drehte ihn auf, spülte sich den Mund aus und schaufelte sich das kühle Nass ins Gesicht. Ja, jetzt war es besser. Jetzt würde er den Gestank ertragen können, und die Leiter würde zu schaffen sein. Sprosse für Sprosse und mit Bedacht. Als er oben angekommen war, ließ er sich ins Stroh sinken, schob sich die Decke unter den Kopf und sah Sterne. Dann wurde es dunkel.
Freitag, 14. November 2014, 19.01 Uhr
Karin schloss die Wohnungstür auf und schaltete das Licht in der Diele ein. Wie sah denn der Fußboden aus! Hatte Jacob einen Trupp Bauarbeiter zu sich ins Zimmer eingeladen oder was hatte all dieser Dreck zu bedeuten? Sie rief nach ihm und erhielt keine Antwort. Hatte der Junge das angerichtet und war dann noch mal fortgegangen? Sie streifte die Stiefeletten von den Füßen und stellte sie auf der Fußmatte ab. So geht das, Freundchen, ganz einfach. Hieß es nicht, mit siebzehn seien die schlimmsten Symptome der Pubertät allmählich vorbei? Dann musste Jacob in dieser Hinsicht wohl ein Spätentwickler sein. Anscheinend konnte er das Provozieren noch immer nicht lassen. Sie schaute auf das leere oberste Blatt des Notizblocks. Na bitte, auch das noch. Keine Nachricht, wo er war, wann er nach Hause kommen würde, ob er zu Abend gegessen hatte. Sie stellte den Musterkoffer und die Handtasche auf der Kommode ab, zog den Mantel aus und hängte ihn an die Garderobe, holte das Handkehrset aus dem Schrank hinter der Küchentür.
Sie sollte das nicht tun. Wenn er diese Schweinerei veranstaltet hatte, sollte er sie gefälligst auch selbst beseitigen. Aber andererseits hatte sie auch keine Lust, mit anzusehen, wie Sand und Erdklumpen sich überall im Haus verteilten. Du liebe Güte, war er denn an diesem trüben Tag im Wald gewesen?
Sie kehrte den Schmutz zusammen und zog sich um, brachte die Liste mit den Bestellungen ins Arbeitszimmer im Obergeschoss und betrachtete sie zufrieden. Der Herbst war eine gute Jahreszeit, um Kosmetik zu verkaufen. Wenn die Gesichter blass wurden, die Kälte die Haut spröde werden ließ und die Feiertage vor der Tür standen, brachten sich all die Tuben und Dosen und Flakons leicht an die Frau. Gönnen Sie sich ruhig mal was, sagte sie zu ihren Kundinnen. Das hatte sie in der Schulung der Firma gelernt. Es half tatsächlich; ein Augenzwinkern, ein verschwörerischer Unterton, und schon war wieder ein Bestellzettel ausgefüllt. Die Arbeit für heute war getan. Jetzt hatte sie Hunger, aber wo blieb der Junge?
Sie ging in die Diele zurück, holte ihr Handy aus der Handtasche und wählte seine Nummer. Es klingelte einmal, zweimal, hörte auf.
»Hallo – Jacob?«, sagte sie in die Stille hinein. »Jacob?«, noch einmal. Keine Antwort.
Aber da war doch jemand dran!
»Was soll das? Jacob, jetzt melde dich schon.« Sie betrachtete das Display. Zumindest auf ihrer Seite war das Netz stabil. Sie lauschte. »Jacob, hörst du mich?«
Kicherte da jemand? Sie bekam eine Gänsehaut, drückte das Gespräch weg und rieb sich die Oberarme. Was war denn bloß los? Sie ging in die Küche, und während sie zwei Scheiben Brot abschnitt, ließ sie den Tag Revue passieren. Sie hatten zusammen gefrühstückt, ein paar eilige Happen, dann war er wie immer losgerannt, um den Schulbus noch zu erwischen. Keine besonderen Vorkommnisse also, auch beim Mittagessen nicht. Vielleicht war er ein bisschen schweigsam gewesen, aber auch das war nichts Neues. Jedenfalls erzählte er ihr gewöhnlich nicht, was er erlebte, was er dachte, vorhatte, tat. Längst hatte sie aufgehört zu fragen. Es stand eben nicht mehr so toll zwischen ihnen. Wann hatte das eigentlich angefangen? Und ginge es wieder vorbei?
Sie nahm die Halbfettmargarine aus dem Kühlschrank. Wurst oder Käse, überlegte sie und stutzte. Moment mal, wo war denn der Teller mit der Quiche? Hatte Jacob doch schon gegessen? Aber sie hatte ihm gesagt, dass sie die Quiche für den nächsten Tag aufheben wollte. Sie konnte am Samstag nicht kochen. Das Weinregal im Keller war dran und auch die Terrasse. Hielt er sich jetzt nicht einmal mehr an ihre Absprachen? Sie schloss die Kühlschranktür und setzte sich an den Tisch. Langsam wurde ihr das unheimlich. Jacob war ein Griesgram im Umgang mit ihr, aber bis jetzt hatte sie sich auf ihn verlassen können. Ob Holger etwas wusste? Sie rief ihn an.
Aber Holger wusste nichts. Sie ging in Jacobs Zimmer und fand das übliche Durcheinander vor. Sogar die Schulsachen lagen auf dem Boden verstreut und …
Der Schreck traf sie in der Magengrube, als sie die leere Fläche auf dem Schreibtisch bemerkte, auf der normalerweise das Notebook stand. Früher hatte er es manchmal mitgenommen, wenn er unterwegs gewesen war, aber seit er das Smartphone besaß, war das Notebook immer zu Hause geblieben. Sie rieb sich den Bauch. Das Notebook weg. Die Quiche weg. Und keine Nachricht. Sie ging ins Bad. Seine Zahnbürste war da, der Kulturbeutel auch. Wieder die Treppe nach unten. Sie entdeckte den Schmutz auf dem Teppich im Wohnzimmer. Schritte bis zum Tisch und wieder zurück. Die Obstschale war beinahe leer, nur eine überreife Birne lag noch darin.
Ich will eine Erklärung, jetzt sofort, dachte sie und wählte erneut seine Nummer. Wieder diese komische Stille am anderen Ende. Und keine Antwort auf ihre Fragen. Aber da atmete jemand, das hörte sie genau.
Sie ging zur Abstellkammer und holte den Staubsauger heraus. Das Gröbste konnte sie damit erledigen, aber der feuchte Schmutz würde auf jeden Fall Spuren hinterlassen. Das ging zu weit, die konnte Jacob selbst beseitigen, sobald er zu Hause war. Bevor sie die Tür der Abstellkammer wieder schloss, schaute sie noch einmal hinein. Irgendetwas war anders als sonst. Diese Lücke auf der Ablage, war die immer schon da gewesen? Der Karton mit dem Weihnachtsschmuck stand an seinem Platz, die Picknicktasche auch, und die Sitzkissen für die Gartenstühle lagen, wo sie hingehörten. Aber wo war die Decke?
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