Fuck! Er warf das Halstuch auf den Boden und befühlte die Braue; ein dickes Ei, aber wenigstens blutete die Wunde nicht mehr. Sein linkes Auge war zugeschwollen, mit dem rechten schaute er sich um. Inzwischen war es schon ziemlich dunkel. Er musste hier weg, bevor der Wald auch noch das letzte Licht des Tages schluckte.
Na los, steh auf, sagte er zu sich selbst. Das hier ist ein Kaff. Ein halbes Jahr noch, dann bist du achtzehn. Im nächsten Sommer hast du das Abi in der Tasche und kannst hier weg. In die Stadt, so wie Annette damals, als sie kaum älter war als er. Oder so wie Paps. Wenn Mama einverstanden gewesen wäre, dass sie alle bei Paps in Prag lebten, wäre das gar nicht passiert. Dann ginge er dort zur Schule und nicht auf dieses öde Gymnasium, in das er mit dem Schulbus gebracht wurde wie alle anderen aus dem Dorf. Auch Philipp. Wie sollte das denn werden in der nächsten Woche? Das ging doch nicht!
Er stand vorsichtig auf. Die linke Seite fühlte sich an, als stäche jemand im Sekundentakt mit einer Mistgabel gegen seinen Brustkorb. Er sah hinüber zu seinem Rad, das er am Wegesrand gegen eine Birke gelehnt hatte. Er würde sich nicht darauf halten können. Also zu Fuß den weiten Weg nach Hause. Wie viele Schritte waren denn zwei Kilometer? Viel zu viele mit diesem Schmerz.
Vielleicht sollte er Holger anrufen, überlegte Jacob. Auf Holger war doch Verlass, der alte Freund seiner Mutter würde ihn bestimmt mit dem Moped abholen. Auf einem Moped würde Jacob sich halten können, und Holger würde ihn nicht mit Fragen nerven und auch nicht im Dorf herumtratschen, was geschehen war. Vielleicht wäre es auch nicht schlecht, ihn in der Nähe zu haben, wenn die Mutter von ihrer letzten Kundin nach Hause kam, wenn sie ihn sah und die Wahrheit ans Licht musste.
Seine Mutter, oje. Wie sollte er ihr das beibringen? Das hatte er doch völlig anders geplant.
Er fasste in seine Jackentaschen. Das Portemonnaie war da und auch sein Schlüsselbund, aber wo war das Handy? Er fasste tiefer hinein und fand es nicht, prüfte die Innentasche – nichts. Das Blut schoss ihm heiß durch die Adern. War das Handy herausgefallen oder …?
Hektisch suchte er die umgewühlte Wiese ab, seine Finger ertasteten feuchte Blätter und verwittertes Holz, einen Kronkorken, einen Regenwurm, aber sein Handy nicht. Er suchte weiter und weiter, tastete, fluchte. Nahm das blutverschmierte Halstuch hoch, aber auch darunter kam das Handy nicht zum Vorschein. Er schleuderte das Tuch wieder weg.
O nein, nicht das Handy, dieses teure Teil mit dem schnellen Internet und dem großen Speicher! All seine Musik. All seine Bilder und Videos. DAS Video. Wenn sie ihm das Handy geklaut hatten, hätten sie ihn eigentlich auch gleich totschlagen können. Es war eingeschaltet, und sie würden nicht lange brauchen, um den Pin-Code zu erraten. Philipps Geburtsdatum. Keine sehr originelle Idee, aber wer hätte denn ahnen können, dass ausgerechnet Philipp mit seinen Freunden ihm das Ding wegschnappen würde. Vier Ziffern, dann konnten sie alles aufrufen. ALLES. Dabei hatte er das Video doch nur für seine Eltern aufgenommen. Eines Tages wollte er es ihnen schicken. Irgendwann, wenn er sich stark genug fühlte und seine Mutter in guter Verfassung war. Er konnte es ihr nicht ins Gesicht sagen. Nicht den ersten Moment erleben, wenn sie es erfuhr, von Angesicht zu Angesicht. Seine eigene Rede. Mama, Paps, ich will euch was sagen …
Er versuchte, sich zu beruhigen. Vielleicht ahnten sie es ja längst. Und außerdem hatten sie nichts gegen Schwule. Immerhin war seine Mutter mit Annette befreundet, und das schon beinahe ihr ganzes Leben lang. Er hätte wenigstens Annette schon einweihen sollen, um eine Verbündete zu haben, wenn es darauf ankam. Aber gerade das hatte er eben nicht gewollt. Erst seine Eltern, danach alle anderen. So hatte er es sich gewünscht für die Zeit, in der er endlich den Mut fand. Denn Mut gehörte nun einmal dazu.
Mama, Paps, ich will euch was sagen … Die halbe Schule war in seinem Adressbuch, die Oma, der Opa, alle Leute, die er kannte. Wie sollte er es aushalten, zu Hause zu sitzen wie auf einer Zeitbombe, die jeden Moment hochgehen konnte? Das Tuscheln im Dorf. Das Gucken und Drucksen. Mamas Kundinnen, ihre Freundinnen, ihre Eltern. Das würde sie nicht durchstehen. Sie war ja schon ausgeflippt, als er sich das Nasenpiercing hatte stechen lassen, ohne sie um Erlaubnis zu fragen. Dieser eisige Blick. Das lange quälende Schweigen. Und natürlich wieder Tabletten. Sie regte sich doch schon auf, wenn Paps in Jogginghosen zur Tankstelle ging, um die Zeitung zu holen. Das war ja zu gewöhnlich. Das gehörte sich nicht.
Er suchte weiter und immer weiter, aber das Handy war nicht da. Hilfe, schrie etwas in seinem Inneren, und er wollte fliehen vor dem, was sich da anbahnte, stolperte über die Lichtung zum Weg hinauf. In seinem Kopf arbeitete es fieberhaft. Einfach weg, irgendwohin, wo niemand ihn finden würde und wo es das Video nicht gab. War es denn nicht genug, dass sie ihn halbtot geschlagen hatten? Halbtot, jawohl, so fühlte er sich. Und eben deshalb käme er nicht weit. Allein zum nächsten Bahnhof waren es zwölf Kilometer, und am Freitagabend fuhr kein Bus mehr. Mamas Auto stand vor der Tür, aber wenn er unbegleitet damit fuhr und die Polizei ihn erwischte, gäbe es noch mehr Ärger. Wo sollte er bloß hin, bis die Beulen abgeschwollen und die Wunden verheilt sein würden? Bis er sicher sein konnte, dass keiner der Jungs das Video verschickte.
Götzls Hof. Aus dem Nichts kam ihm der Kuhstall des Bauern in den Sinn, der einen fantastischen Heuboden hatte. Wie oft war er dort gewesen, hatte Strohballen übereinander getürmt, um durch die Dachluke auf sein Zuhause auf der anderen Straßenseite hinunterzuschauen. Spiel nicht dort , hatte die Mutter ihn ermahnt, als er noch ein Kind gewesen war. Der Götzl ist ein Säufer . Glaubte sie denn, dass er immer tat, was sie sagte? In all den Jahren war der Kuhstall mit dem Heuboden darüber sein eigenes Reich gewesen. Unbemerkt vom Rest der Welt hatte er ein Volk aus Kühen, Mäusen und Ratten regiert, während niemand ihn vermisste. Manchmal hatte er seine Playmobil-Ritter ruhmreiche Taten vollbringen lassen. Die Figuren lagen sicher noch immer in dem alten Versteck. Die Playmobil-Ritter, zweite Generation. Heimlich hatte er sie auf dem Heuboden deponiert. Und heimlich musste er jetzt selbst dorthin gelangen.
Er zog sich die Kapuze auf den Kopf, als er aus dem Wald trat und an der Straße entlang zurück ins Dorf ging. Jeder Schritt tat weh, aber er musste sich beeilen. Falls er jetzt wenigstens ein bisschen Glück hatte und vor seiner Mutter zu Hause war, konnte er noch Proviant holen. Und vor allem das Notebook. Bestimmt reichte das WLAN bis hinüber zu Götzls Hof, und wenn nicht, konnte er den Stick nehmen, um ins Netz zu gehen und nachzuschauen, ob das Video irgendwo auftauchte. Bei der Vorstellung wurde ihm schwindelig. Shit! Hätte er Mama und Paps doch einfach alles gesagt. Er blieb stehen und seufzte. Einfach war ja Unsinn. Einfach war es eben nicht.
Gerade als er zu Hause ankam, begann es zu regnen. Er blickte auf und registrierte, dass keines der Fenster im Haus erleuchtet und seine Mutter weit und breit nicht zu sehen war. Erleichtert schloss er auf, schaltete das Licht im Flur ein, betrachtete sich selbst im Garderobenspiegel und erschrak. Das linke Auge sah krass aus, die Unterlippe verkrustet von geronnenem Blut. Der helle Wahnsinn, dachte er, Klitschkos Gegner nach dem K.o. Ging das von selber wieder weg oder musste er doch zum Arzt?
Mit einem Ruck löste er sich von seinem Spiegelbild, zog sich am Treppengeländer hoch und biss die Zähne zusammen, senkte den Blick und sah, dass aus dem Profil seiner Schuhe schwarze Klumpen auf die Fliesen rieselten, aber darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen. Er ging in sein Zimmer. Das Notebook lag auf dem Schreibtisch. Er nahm die Schulsachen aus dem Rucksack, um Platz zu schaffen. Jetzt war er froh, dass er immer das Kabel benutzte, wenn er zu Hause arbeitete. Der Akku musste vollständig geladen sein. Jacob verstaute das Notebook im Rucksack und stieg die Treppe vorsichtig wieder hinunter; bloß keine Erschütterungen. Im Kühlschrank fand er eine volle Flasche Wasser und den Rest der Quiche vom Mittagessen. Er packte beides ein, bog ins Wohnzimmer ab, nahm auch die Äpfel und Bananen aus der Kristallschale mit. Eine überreife Birne ließ er liegen.
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