Filchner hingegen wollte 1939 seine 1904 begonnenen erdmagnetischen Untersuchungen in Nepal abschließen, wo er das Angebot der dortigen Maharadschas angenommen hatte, die erste systematische Bodenvermessung des kleinen Königreichs am Fuße des Himalajas zu leiten. Aber anstatt seine geplanten Messungen fortsetzen zu können, wurde von ihm erwartet, Gold- und Erdölvorkommen zu finden. Zuvor schon an Malaria erkrankt musste Filchner schließlich 1940 wegen einer akuten Nierenerkrankung zur Operation in das britische Indien abreisen. Inzwischen hatte das Deutsche Reich einen Krieg mit Polen begonnen, das mit Großbritannien verbündet war. Obwohl Filchner die Ausreise nach Deutschland noch möglich war, blieb er lieber in Indien und begab sich in die britische Internierung, wohl auch deshalb, weil seine verheiratete Tochter Erika in einem benachbarten Camp ebenfalls interniert war. Bald schon durften sie in dem Camp von Satara zusammenziehen. Als das Camp 1946 aufgelöst wurde und seine Tochter nach Deutschland zurückkehrte, blieb Filchner auf eigenen Wunsch hin in Poona, wo er 1949 das Manuskript seiner Autobiographie beendete. Erst 1951 kehrte er aus gesundheitlichen Gründen nach Europa zurück, wo er sich mithilfe seiner Freunde in Zürich ansiedelte und dort bis zu seinem Tod am 7. Mai 1957 zurückgezogen lebte. Im selben Jahr erschien noch das Gemeinschaftswerk »Route-Mapping and Position Locating in Unexplored Regions«, das er 1906 aufgrund seiner Erfahrungen in Zentralasien begonnen hatte.
Vermessungsskizze der 3000 Jahre alten Besiedlung in der Dulan-Ebene (1937), Quelle: Filchner 1938, S. 103
In ihrer Fernsehdokumentation »Leidenschaft Tibet. Auf den Spuren des Forschers Wilhelm Filchners« aus dem Jahr 2002 beschreibt Jutta Neupert, wie das Kloster Kumbum nach seiner Schließung während der Kulturrevolution der Volksrepublik China verfiel und 90% der Gebäude zerstört wurden. Jahrzehnte später durfte sich dort wieder eine kleine Mönchsgemeinschaft ansiedeln, die im Jahr 2002 auf rund 450 Mitglieder angewachsen war. Als Neupert zu Beginn der Dreharbeiten in Kumbum den Mönchen eine Kopie von Filchners Dokumentation schenkte, kehrte ein historisch äußerst wertvolles Kulturgut wieder an seinen Ausgangspunkt zurück, das eine historische Lücke schloss, die einst durch die Kulturrevolution geschlagen worden war. Heute gehört das Kloster zu den herausragenden Kulturdenkmälern, die mit staatlichen Geldern aufwendig restauriert sind, um als neuer Tourismusmagnet möglichst viele zahlende Gäste anzulocken. Allerdings wurden Gebäude umgebaut und Straßen verbreitert, sodass der Charme des historischen Klosterensembles längst nicht mehr existiert. In diesem Zusammenhang haben Filchners Filmaufnahmen einen besonderen dokumentarischen Wert.
Für seine Verdienste in Tibet wurde Filchner 1911 die Ehrendoktorwürde der Königsberger Universität verliehen und 1937 der Titel Dr.-Ing. h. c. der Technischen Hochschule München. In der Antarktis tragen neben dem schon erwähnten Filchner Schelfeis das Filchner Kap nahe dem von Drygalski entdeckten Kaiser-Wilhelm-II-Land, die Filchner Berge in Neuschwabenland (Dronning Maud Land) und die Filchner Felsen östlich von Südgeorgien seinen Namen. Im Kurpark Bad Homburg erinnert ein Denkmal und in Gera die Wilhelm-Filchner-Straße an den Forschungsreisenden. Zum hundertjährigen Jubiläum seiner Antarktisexpedition entstand ein Open-Air-Theaterstück, das die Spannungen zwischen den Expeditionsmitgliedern analysierte und am 14. Juni 2012 an der Columbuskaje in Bremerhaven uraufgeführt wurde.
Filchners Nachlass befindet sich in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München, wo seine Tagebücher, umfassende Korrespondenzen, Fotos, Filme, Bücher und Erinnerungsstücke aus seinen Expeditionen sowie auch Neuperts Fernsehdokumentation aufbewahrt werden. Die wissenschaftlichen Aufzeichnungen sind in Potsdam deponiert.
Cornelia Lüdecke
Möge diese meine Expedition nach Zentralasien den Beweis verstärken, dass im deutschen Volk trotz Unglück und Not noch der alte Idealismus lebt und der Glaube an die eigene Kraft.
Zu den erfreulichsten Erfahrungen auf meiner Forschungsfahrt gehört es, dass mir von den Angehörigen der verschiedensten Nationen allenthalben hilfreiche Hand geboten wurde, sodass sich die Überzeugung in mir festigte, dass auch heute noch Achtung und Liebe für Wissenschaft und tätiges Forscherstreben lebendig geblieben sind. Und das beweist wiederum, dass bei gemeinsamer Verfolgung ideeller Ziele trennende Gegensätze am besten überbrückt werden.
Berlin, im Herbst 1931
Wilhelm Filchner
»Om mani padme hum«, diese sechs Silben, die ich diesem Buch zum Namen gab, bedeuten eine Bannformel, eine der kürzesten wohl und sicher die meistgesprochene, -geschriebene und -vervielfältigte auf dieser Erde. Mit Inbrunst und erstaunlich seltsamen Mitteln wird die unablässige Wiederholung dieser einen Formel in dem fernen Hochgebirgsland Tibet betrieben.
»Om mani padme hum« heißt zu Deutsch: »O Kleinod im Lotos!« Dieser Ausspruch ist das tägliche, stündliche, immerwährende Gebet eines Volkes und zugleich eines Glaubens. Der deutsche Tibetforscher Professor A. H. Francke hat den ursprünglichen Sinn dieses Gebetes ermittelt. Für die Bekenner des Lamaismus, nämlich die Tibeter und Mongolen, kommt nur die einheimische Erklärung der heiligen sechs Silben infrage, die jeder Silbe eine besondere magische Kraft beilegt. Die Treffsicherheit dieser Silben wird mit folgenden Worten gepriesen:
»Der (Welt-) Berg Ssumeru ließe sich wohl noch in der Waagschale abwägen.« –
»Das große Weltmeer ließe sich wohl tropfenweise erschöpfen.« –
»Die finsteren unermesslichen Wälder und Gebüsche des Schneereiches (Tibet, d. Verf.), in Asche verwandelt, ließen sich wohl stäubchenweise zählen.« –
»Eine Einfassung von hundert Meilen im Umfang, mit den feinsten Samenkörnern gefüllt, von denen täglich nur eines herausgenommen würde, könnte am Ende wohl leer werden.« –
»Ein zwölf Monate lang anhaltender, Tag und Nacht sich unaufhörlich ergießender Regen könnte wohl tropfenweise gezählt werden.« –
»Die Tugenden aber, die ein einmaliges Aussprechen der sechs Silben bewirkt, sind unberechenbar.«
1.
VON MOSKAU BIS CHORGOS
Eine höchst unerwartete Wirkung hatte meine Unternehmung, noch ehe sie wirklich begonnen. In Moskau hielt man mich für einen Sowjetkommissar! Diese Ehre verdankte ich meiner Reisetracht, die ich auf früheren Expeditionen erprobt hatte und im moskowitischen Winter auch bewährt fand: dunkelbrauner Lederanzug, Gamaschen, Pelzmütze. Nichts lag mir, weiß Gott, ferner, als den russischen Machthabern ins Handwerk zu pfuschen. Aber überall – nicht nur auf den Straßen, auch in den amtlichen Departements – wurde ich wieder und wieder als Kommissar der Sowjets angesprochen.
Manche wollten es mir gar nicht glauben, dass ich Deutscher sei; sie schienen diese meine Versicherung eher für irgendeine List zu halten und lächelten vielsagend. Ich sähe gar zu waschecht aus »wie ein Volkskommissar von 1917«.
Im Übrigen hat man mich in Moskau, sobald meine Person und meine Ziele bekannt wurden, viel zu häufig – entschieden über meinen Bedarf hinaus – photographiert, namentlich für Arbeiterzeitungen; auch an Interviewern fehlte es nicht.
Schließlich hatte ich nicht übel Lust, mich selbst einmal zu fragen, wer und was ich eigentlich sei? Wie ich hierher in diese russische Welt kam? Und was ich denn noch weiter, viel weiter draußen im Herzen Asiens suchte?
Читать дальше