Willi Jasper
Faust oder Mephisto?
Europas Intellektuelle –
eine aktuelle Krisengeschichte
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.deabrufbar.
ISBN 978-3-8012-7032-2 (E-Book)
ISBN 978-3-8012-0572-0 (Printausgabe)
Copyright © 2021
by Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH
Dreizehnmorgenweg 24, 53175 Bonn
Umschlag: Antje Hack | Lichten, Hamburg
Unter Verwendung der Handschrift von Johann Wolfgang von Goethe
Satz: Rohtext, Bonn
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, 2021
Alle Rechte vorbehalten
Besuchen Sie uns im Internet: www.dietz-verlag.de
Cover
Titel Willi Jasper Faust oder Mephisto? Europas Intellektuelle – eine aktuelle Krisengeschichte
Impressum Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. ISBN 978-3-8012-7032-2 (E-Book) ISBN 978-3-8012-0572-0 (Printausgabe) Copyright © 2021 by Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH Dreizehnmorgenweg 24, 53175 Bonn Umschlag: Antje Hack | Lichten, Hamburg Unter Verwendung der Handschrift von Johann Wolfgang von Goethe Satz: Rohtext, Bonn E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, 2021 Alle Rechte vorbehalten Besuchen Sie uns im Internet: www.dietz-verlag.de
Geist und Tat: eine Spurensuche
Europa unterm Brennglas der Pandemie
Blick zurück: Mythos der Antike – Gründungsmythos der Moderne
Faust, Mephisto und die Deutschen
Exil und Transnationalismus
Volksfronten
Kant und Heinrich Mann
Willy Brandt und die »linke« Tradition
Flüchtlingskrise und »Leitkultur«
Europa – »ein neuer jüdischer Ort«?
Die Intellektuellen und der Medienwandel
Was habt ihr uns noch zu sagen?
Ein Ausblick: Zukunft und Solidarität – sind das noch EU-Themen
Namensregister
Quellen und Literatur
Geist und Tat: eine Spurensuche
Die Intellektuellen – wo sind sie? Seit Jahrzehnten monieren Journalisten, Wissenschaftler und Schriftsteller, dass ihre Bedeutung für die europäische Krisensituation zu wenig beachtet werde. Aber haben sie heute überhaupt noch eine Bedeutung im öffentlichen Leben? 1976 erinnerte der österreichische Schriftsteller und frühere Widerstandskämpfer Jean Améry anlässlich der deutschsprachigen Neuausgabe von Julien Bendas Klassiker » Der Verrat der Intellektuellen« (1927) daran, wie »aktuell« und notwendig auch 50 Jahre nach dem Erscheinen dieses Buchs das ideenpolitische Engagement für die »europäische Zivilisation« sei. Gut gebrüllt, Löwe! Für Benda bestand die Aufgabe der Intellektuellen, der Clercs , wie er sagte, der Gelehrten , nach wie vor darin, die Idealität der menschlichen Moral zu verkünden und Widerstand zu leisten gegen diejenigen, denen es allein um materielle und »nationalleidenschaftliche« Bedürfnisse ging. Im November 2011 polemisierte der Zeit -Redakteur Thomas Assheuer: »Irgendwann, wenn die Ratlosen von morgen die Schuldigen von heute beim Namen nennen, wenn sie aufzählen, wem alles Europa gleichgültig geworden war, bevor es fast in Trümmer fiel, wenn sie mit den Fingern auf die tollen Ökonomen zeigen, die an der Börse ›Staaten versenken‹ gespielt hatten, wenn sie mit posthumer Bestürzung all die Politiker Revue passieren lassen, die Front gegen Europa machten – irgendwann, ganz am Schluss, bevor der Letzte das Licht ausmacht, wird die Rede auf eine seltsame Spezies kommen, nämlich auf die Intellektuellen. Wo waren sie eigentlich, als Europa die Luft ausging?« Europa habe unter den Intellektuellen »keine Leidenschaft« hervorgebracht, keine »sprühende politische Fantasie, nur ein apartes Phlegma auf mittlerem Niveau«. Die Europäische Union, so Assheuer, besitze keine geistige Adresse. Brüssel sei »wie eine Realfiktion, eine gigantische Blackbox, ein schalltoter Raum, eine insulare Macht der Absorption ohne den geringsten diskursiven Charme.« Die sogenannten »kritischen Intellektuellen« hätten sich gegen die Macht des Geldes, die Macht der Schulden und beim »Debakel der Finanzindustrie« nicht durchsetzen können.
Obwohl sich inzwischen unzählige Publikationen mit der Frage, »Was ist ein Intellektueller?«, beschäftigen, »fixieren« sie damit »eine falsche Perspektive«. Das jedenfalls betonte der Literaturhistoriker Dietz Bering 2010 in seinem Buch über » Die Epoche der Intellektuellen« . Denn die Frage unterstelle, es gebe da eine feststehende Figur, von der man nur noch herausbekommen müsse, was sie eigentlich sei. In Wirklichkeit seien Wörter von Menschen gebildete und durch vielerlei Stellschrauben »extrem veränderbare Werkzeuge«. Möge das Werkzeug auch denselben Namen tragen (nämlich »Intellektueller«), so sei es in der Hand verschiedener Menschen und verschiedener Ideologien doch so verschieden geformt, dass die Frage nur lauten könne: »Wer soll bei uns aus welchen Gründen zu welchen Zwecken ›Intellektueller‹ genannt werden?«
Gab es diese Spezies nicht bereits im antiken Athen, als Philosophen über die geistige Substanz der Polis , ihres Staatsverbands, gestritten haben? Bering erinnert daran, dass das Wort les intellectuels in Frankreich auch schon vor seiner offiziellen Geburtsstunde, dem berühmten Dreyfus-Prozess von 1894, gebraucht wurde. Einiges spricht dafür, die Ankunft des Intellektuellen in der Welt ein Jahrhundert vorzuverlegen und dem kritischen Aufklärer Voltaire die Urkunde zu überreichen. Doch der Dreyfus-Prozess war das »aufrüttelnde Ereignis«, das den Begriff ins Zentrum der Pariser Debatten und bald auch in die der Weltöffentlichkeit brachte. Die gesetzwidrige Verurteilung des jüdischen Hauptmanns Alfred Dreyfus als vermeintlicher Spion war nur der äußere Anlass – im Kern ging es der Dritten Republik um viel mehr, um etwas von genereller Bedeutung: Es ging um die Demokratie. Am 13. Januar 1898 hatte der Schriftsteller, Journalist und Maler Émile Zola mit seinem an den Präsidenten Félix Faure gerichteten Aufruf »J’accuse« die französische Öffentlichkeit in Dreyfus-Feinde und Dreyfus-Freunde gespalten. Wenig später verbreitete die Zeitung L ’ Aurore das von dem Journalisten und Politiker Georges Clemenceau sowie dem Schriftsteller Anatole France initiierte » Manifeste des intellectuels «. Es war ein »Identifikationsangebot«. Ein neuartiger Presse-Krieg und die Debatten der Straße sorgten dafür, dass das Wort »Intellektueller« von allen hochgehalten wurde, die bereit waren, sich zu politisieren und ihrem »Gewissen« zu folgen, die die »demokratischen« Prinzipien verteidigten und einem »wissenschaftlichen« Wahrheitsbegriff die Ehre gaben. Von der reaktionären Gegenpartei wurden die »intellektuellen« Demokratieverfechter als »dekadente« und »jüdische Vaterlandsverräter« diffamiert. Mit der Revision des Urteils und dem Freispruch für Dreyfus – auch wenn das komplizierte Verfahren sich über Jahre hinzog – erzielte Zolas Kampagne einen direkten Erfolg, aber noch wichtiger war der indirekte: die Bewahrung der Dritten Republik vor einem neuen Bonapartismus. Zwar hatte die Dreyfus-Affäre Frankreich in feindliche Lager geteilt – doch der Nationalismus und Antisemitismus der Action Française waren zurückgedrängt worden, Frankreichs Republik gerettet durch die Institutionalisierung der Rolle des »allgemeinen Intellektuellen« (Michel Foucault).
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