Willi Jasper - Faust oder Mephisto?

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Wo sind die kritischen Streiter, die geistigen Kraftzentren, die die Debatten über die EU, Pandemiegesetze oder die Zukunft der Demokratie anführen? Sind sie im Medienwandel untergegangen? Auf welche Weise haben die Intellektuellen den europäischen Einigungsprozess beeinflusst? Und was tun sie heute in der Corona-Krise? Haben sie Europa verlassen? Gar verraten, wie schon Julien Benda vor gut 100 Jahre meinte? Es gibt sie nicht mehr, jedenfalls als Typus. Dies ist ein enormer kultureller und politischer Verlust.
Faust oder Mephisto – auf diesen Mythos überträgt Willi Jasper die intellektuelle Krise Europas. Die wirtschaftliche und politische Vorherrschaft Deutschlands steht für Faust: die antiintellektuelle Funktionalisierung der Macht. Doch wenn wir eine lebendige transnationale europäische Demokratie wollen, brauchen wir den freien, einklagenden, kritischen Geist. Er gehört zu Politik und Gesellschaft wie Mephisto zu Faust. Übernehmen die neuen «Medienintellektuellen» sein Erbe?

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Willi Jasper

Faust oder Mephisto?

Europas Intellektuelle –

eine aktuelle Krisengeschichte

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche - фото 1

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.deabrufbar.

ISBN 978-3-8012-7032-2 (E-Book)

ISBN 978-3-8012-0572-0 (Printausgabe)

Copyright © 2021

by Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH

Dreizehnmorgenweg 24, 53175 Bonn

Umschlag: Antje Hack | Lichten, Hamburg

Unter Verwendung der Handschrift von Johann Wolfgang von Goethe

Satz: Rohtext, Bonn

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, 2021

Alle Rechte vorbehalten

Besuchen Sie uns im Internet: www.dietz-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel Willi Jasper Faust oder Mephisto? Europas Intellektuelle – eine aktuelle Krisengeschichte

Impressum Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. ISBN 978-3-8012-7032-2 (E-Book) ISBN 978-3-8012-0572-0 (Printausgabe) Copyright © 2021 by Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH Dreizehnmorgenweg 24, 53175 Bonn Umschlag: Antje Hack | Lichten, Hamburg Unter Verwendung der Handschrift von Johann Wolfgang von Goethe Satz: Rohtext, Bonn E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, 2021 Alle Rechte vorbehalten Besuchen Sie uns im Internet: www.dietz-verlag.de

Geist und Tat: eine Spurensuche

Europa unterm Brennglas der Pandemie

Blick zurück: Mythos der Antike – Gründungsmythos der Moderne

Faust, Mephisto und die Deutschen

Exil und Transnationalismus

Volksfronten

Kant und Heinrich Mann

Willy Brandt und die »linke« Tradition

Flüchtlingskrise und »Leitkultur«

Europa – »ein neuer jüdischer Ort«?

Die Intellektuellen und der Medienwandel

Was habt ihr uns noch zu sagen?

Ein Ausblick: Zukunft und Solidarität – sind das noch EU-Themen

Namensregister

Quellen und Literatur

Geist und Tat: eine Spurensuche

Die Intellektuellen – wo sind sie? Seit Jahrzehnten monieren Journalisten, Wissenschaftler und Schriftsteller, dass ihre Bedeutung für die europäische Krisensituation zu wenig beachtet werde. Aber haben sie heute überhaupt noch eine Bedeutung im öffentlichen Leben? 1976 erinnerte der österreichische Schriftsteller und frühere Widerstandskämpfer Jean Améry anlässlich der deutschsprachigen Neuausgabe von Julien Bendas Klassiker » Der Verrat der Intellektuellen« (1927) daran, wie »aktuell« und notwendig auch 50 Jahre nach dem Erscheinen dieses Buchs das ideenpolitische Engagement für die »europäische Zivilisation« sei. Gut gebrüllt, Löwe! Für Benda bestand die Aufgabe der Intellektuellen, der Clercs , wie er sagte, der Gelehrten , nach wie vor darin, die Idealität der menschlichen Moral zu verkünden und Widerstand zu leisten gegen diejenigen, denen es allein um materielle und »nationalleidenschaftliche« Bedürfnisse ging. Im November 2011 polemisierte der Zeit -Redakteur Thomas Assheuer: »Irgendwann, wenn die Ratlosen von morgen die Schuldigen von heute beim Namen nennen, wenn sie aufzählen, wem alles Europa gleichgültig geworden war, bevor es fast in Trümmer fiel, wenn sie mit den Fingern auf die tollen Ökonomen zeigen, die an der Börse ›Staaten versenken‹ gespielt hatten, wenn sie mit posthumer Bestürzung all die Politiker Revue passieren lassen, die Front gegen Europa machten – irgendwann, ganz am Schluss, bevor der Letzte das Licht ausmacht, wird die Rede auf eine seltsame Spezies kommen, nämlich auf die Intellektuellen. Wo waren sie eigentlich, als Europa die Luft ausging?« Europa habe unter den Intellektuellen »keine Leidenschaft« hervorgebracht, keine »sprühende politische Fantasie, nur ein apartes Phlegma auf mittlerem Niveau«. Die Europäische Union, so Assheuer, besitze keine geistige Adresse. Brüssel sei »wie eine Realfiktion, eine gigantische Blackbox, ein schalltoter Raum, eine insulare Macht der Absorption ohne den geringsten diskursiven Charme.« Die sogenannten »kritischen Intellektuellen« hätten sich gegen die Macht des Geldes, die Macht der Schulden und beim »Debakel der Finanzindustrie« nicht durchsetzen können.

Obwohl sich inzwischen unzählige Publikationen mit der Frage, »Was ist ein Intellektueller?«, beschäftigen, »fixieren« sie damit »eine falsche Perspektive«. Das jedenfalls betonte der Literaturhistoriker Dietz Bering 2010 in seinem Buch über » Die Epoche der Intellektuellen« . Denn die Frage unterstelle, es gebe da eine feststehende Figur, von der man nur noch herausbekommen müsse, was sie eigentlich sei. In Wirklichkeit seien Wörter von Menschen gebildete und durch vielerlei Stellschrauben »extrem veränderbare Werkzeuge«. Möge das Werkzeug auch denselben Namen tragen (nämlich »Intellektueller«), so sei es in der Hand verschiedener Menschen und verschiedener Ideologien doch so verschieden geformt, dass die Frage nur lauten könne: »Wer soll bei uns aus welchen Gründen zu welchen Zwecken ›Intellektueller‹ genannt werden?«

Gab es diese Spezies nicht bereits im antiken Athen, als Philosophen über die geistige Substanz der Polis , ihres Staatsverbands, gestritten haben? Bering erinnert daran, dass das Wort les intellectuels in Frankreich auch schon vor seiner offiziellen Geburtsstunde, dem berühmten Dreyfus-Prozess von 1894, gebraucht wurde. Einiges spricht dafür, die Ankunft des Intellektuellen in der Welt ein Jahrhundert vorzuverlegen und dem kritischen Aufklärer Voltaire die Urkunde zu überreichen. Doch der Dreyfus-Prozess war das »aufrüttelnde Ereignis«, das den Begriff ins Zentrum der Pariser Debatten und bald auch in die der Weltöffentlichkeit brachte. Die gesetzwidrige Verurteilung des jüdischen Hauptmanns Alfred Dreyfus als vermeintlicher Spion war nur der äußere Anlass – im Kern ging es der Dritten Republik um viel mehr, um etwas von genereller Bedeutung: Es ging um die Demokratie. Am 13. Januar 1898 hatte der Schriftsteller, Journalist und Maler Émile Zola mit seinem an den Präsidenten Félix Faure gerichteten Aufruf »J’accuse« die französische Öffentlichkeit in Dreyfus-Feinde und Dreyfus-Freunde gespalten. Wenig später verbreitete die Zeitung LAurore das von dem Journalisten und Politiker Georges Clemenceau sowie dem Schriftsteller Anatole France initiierte » Manifeste des intellectuels «. Es war ein »Identifikationsangebot«. Ein neuartiger Presse-Krieg und die Debatten der Straße sorgten dafür, dass das Wort »Intellektueller« von allen hochgehalten wurde, die bereit waren, sich zu politisieren und ihrem »Gewissen« zu folgen, die die »demokratischen« Prinzipien verteidigten und einem »wissenschaftlichen« Wahrheitsbegriff die Ehre gaben. Von der reaktionären Gegenpartei wurden die »intellektuellen« Demokratieverfechter als »dekadente« und »jüdische Vaterlandsverräter« diffamiert. Mit der Revision des Urteils und dem Freispruch für Dreyfus – auch wenn das komplizierte Verfahren sich über Jahre hinzog – erzielte Zolas Kampagne einen direkten Erfolg, aber noch wichtiger war der indirekte: die Bewahrung der Dritten Republik vor einem neuen Bonapartismus. Zwar hatte die Dreyfus-Affäre Frankreich in feindliche Lager geteilt – doch der Nationalismus und Antisemitismus der Action Française waren zurückgedrängt worden, Frankreichs Republik gerettet durch die Institutionalisierung der Rolle des »allgemeinen Intellektuellen« (Michel Foucault).

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