Pop also bildet den Alltagsverstand und begrenzt ihn zugleich; und daher heißt es, wenn man behauptet, Pop und Politik seien mehr oder weniger die zwei Seiten ein und derselben Sache geworden (Pop als politisches Steuerungsmittel, Politik als popförmiges Edutainment), beides dialektisch zu trennen: Eine endgültige Verschmelzung – wie in einem Trump-Wahlkampf – findet dort ihre Grenzen, wo beides ihr Außen, ihre Wildnis, ihre Metaphysik aufweist. Pop ist zugleich Politik und die Erlösung von Politik; Politik ist zugleich Pop und die Erlösung von Pop. Ein Seitenprodukt dieser Beziehung ist: Anti-Politik und Anti-Pop. Man kann auch sagen: Gespenster-Politik und Gespenster-Pop.
Ein Erbe der bürgerlichen Gesellschaft ist die Einteilung von »Hochkultur« und »Massenkultur«; in der simplen Abbildung sieht das so aus: Die einen lesen Thomas Mann und die anderen die »Lore-Romane«, die einen hören Wagner und die anderen die Zillertaler Schürzenjäger, die einen gehen ins Theater und die anderen glotzen fern. Und zwischen beiden gibt es nichts als Verachtung; es ist keineswegs so, dass nur die »Hochkulturler« die »Massenkulturler« verachten, mindestens genau so groß ist die Verachtung, die das Populäre gegenüber dem Gebildeten entfaltet; da bildet sich der Gegensatz zwischen Volk und Elite noch einmal ab. Bloß dass die »Hochkultur« eben nicht mehr dringlich an eine politische und (vor allem) ökonomische Elite gebunden ist, sondern viel eher an eine hoffnungslos veraltete, halbfiktionale und lächerliche Minderheit des »Bildungsbürgers«. Ein Bekenntnis zum »Bildungsbürgertum« ist unmöglich geworden; es ist historisch abgeschlossen, es ist der fatale Versuch, etwas besseres zu sein, es ist ein Affront gegen »das Volk«, und für die Karriere ist es auch eher hinderlich als förderlich. So wie also »das Linke« sich von einem sozialen Erfahrungs- und Handlungsort entfernt hat, um zu einem abstrakten moralischen Gegenstand von »Haltung« zu werden, so hat sich Kultur – als Medium von Aufklärung und Kritik vom Bürgertum einst modernisiert – von einem Klassenbewusstsein (und hier und da sogar Klassengewissen) zu einem mehr oder weniger folgenlosen und mehr oder weniger ausgelagerten Minderheitskult gewandelt. Natürlich kann sich auch dieser Restposten des einstigen dynamischen Bildungsbürgertums nicht »entpolitisieren« (Kultur ist eine Art Aussteigerdroge geworden), sie ließ sich aber durchaus entmachten, so wie umgekehrt der populären Kultur (»den« Medien) immer mehr der Status eines Machtfaktors in der Demokratie und Postdemokratie eingeräumt wurde. Im Gegensatz zum klassischen Unternehmerkapitalismus ist der Neoliberalismus nicht mehr auf »Fortschritt«, sondern nur noch auf Wachstum aufgebaut, und in der Hochkultur wie in der Popkultur herrscht daher schon seit geraumer Zeit fundamentale Abneigung gegen »Zukunft«. Ewige Gegenwart, ewige Wiederkehr von Regressionsschüben ist das Versprechen.
Schon in den siebziger Jahren war dem deutschen Bundeskanzler Schmidt öffentlich klar geworden, dass in Deutschland keine Regierung gegen die Bild -Zeitung möglich ist, und heute gehört es zum Grundwissen des politischen Nachwuchses, dass man ohne Fernsehen nichts wird. Diese Bewegung der Macht von der »Hochkultur« zur »Populärkultur« als Demokratisierung oder gar als Überwindung der elitären Legitimationsinstrumente der herrschenden Klasse zu feiern, ist grundfalsch. Denn einerseits sind die Fabrikationsanlagen der populären Kultur ja so fest in den Händen der ökonomischen Elite wie die bürgerliche Kultur nie war, und andererseits ist der Verzicht auf die »Hochkultur« auch nichts anderes als ein Verzicht auf Emanzipation und Fortschritt. Denn diese Hochkultur enthält unter vielem anderen auch das Archiv der Befreiungskämpfe, sie enthält die Instrumentarien der Kritik, und sie ist das Transportmittel zwischen dem Allgemein- und Alltagswissen und dem »Geheimwissen« von Wissenschaft und Expertentum. Wenn »das Volk« auf eine Kultur hereinfiele, die behauptet, man brauche nicht mehr als »Traumschiff«, Bild -Zeitung, Oktoberfest und Internet-Pornos und ein Mehr an Kultur und Kunst sei nur »elitär« und »abgehoben«, dann hätte dieses Volk alles für seine Selbstentmachtung getan. Glücklicherweise aber ist dieses Volk nur eine Erfindung von Wurstreklame und Rechtspopulismus. (Unglücklicherweise bilden sich eine Menge Menschen in sehr verschiedenen Lebensumständen genau so ihr Selbstbild.)
Populäre Kultur, also die ästhetische Materie, aus der Kulturindustrie wie Popkultur schöpfen, ist nur einerseits eine industrielle Nachfolge jener Volkskultur, die man als sekundären Code für eine Aufhebung von Lust und Ordnung hinlänglich beschrieben hat. Sie benötigt andererseits die industrielle Produktionsweise, was unter vielem anderen die Gegenwart von Maschinen und Fabriken beinhaltet, die extreme Arbeitsteilung, die Normierung, die Trennung zwischen primären, sekundären und tertiären Produzenten (Maschinisten, Erfinder und Fabrikherren), und bislang ist noch keine Traumfabrik abzusehen, in der etwa diese Teilung aufgehoben wäre: die Leute, die Musik machen, die Leute, die sie verarbeiten, und die, die sie vermarkten. Die Schauspieler, die Regisseure und die Harvey Weinsteins.
Antonio Gramsci hat deshalb stets darauf bestanden, dass man nicht nur die populäre Kultur als Produktion des Alltagswissens ernst nehme, ihre ganz eigene Semantik und Ästhetik würdige, sondern stets auch einen Dialog mit der traditionellen Hochkultur (die ja einen solchen Namen erst durch die kulturellen Klassenkämpfe erhielt), am Ende Übernahme und Versöhnung anzustreben habe. Im Pop der sechziger und siebziger Jahre schien sich eine solche Möglichkeit durchaus anzubahnen. Es war möglich, Rolling Stones und Chuck Berry zu hören, und zugleich Rilke und Marx zu lesen. Bei Bob Dylan kam das alles ohnehin wieder zusammen, und bei Frank Zappa auch, ebenso aber auch bei Andy Warhol, der den Künstler als Pop-Star gab und die Techniken von Hoch- und Massenkultur bewusst miteinander kurzschloss. Pop, Politik und »Hochkultur« verschmolzen nun keineswegs miteinander, so wenig sie das im Hades der »Klassik light« oder der »Kunst am Bau« taten, aber sie verloren ihren Hierarchie- und Distinktionswert. Desgleichen sang Aretha Franklin auch für rebellische weiße Frauen aus dem Mittelstand von Veränderung und Respekt. Man hörte Jimi Hendrix in Autowerkstätten und Universitäten; Donald Duck wurde in Kinderzimmern und Republikanischen Clubs gelesen, kurzum: Im Pop sollte Kultur ihren Klassen-, Rassen- und Gender-Charakter überwinden und in den Dienst allgemeiner Erneuerung und Befreiung gestellt sein. Vor allem, um gemeinsam Spaß zu haben.
Der Rückschlag kam viel früher, und er wurde nicht zuletzt von einer Kulturindustrie betrieben, der an einer Vervielfältigung der Märkte und an verstärkter Kontrolle ihrer primären Produzenten lag. Elvis Presley war ja noch ein in sich durchaus rebellisches Produkt dieser Industrie gewesen, aber die Beatles griffen selbst in die Produktionsmaschine ein und machten sich über die Macht ihrer Vermarktung lustig, sie ließen erahnen, dass sich Besitzverhältnisse ändern können. Und Kontrollinstanzen.
Bei Elvis Presley erinnern wir uns freilich schon an die widerwärtigsten Machenschaften in dieser Pop-Industrie, als eine von Weißen für Schwarze produzierte Zeitschrift ein »Zitat« publizierte, demzufolge Elvis gesagt haben solle, ein Schwarzer sei für ihn gerade gut genug, die Schuhe zu putzen. Natürlich hat er so was nie gesagt, aber anders als die Beatles war er nie Herr seines Materials noch seines Images. Er konnte nur der Elvis sein, den man aus ihm machte, was für seine Zeit schon eine Menge war. Dieses Beispiel zeigt, wie sehr Rassismus immer auch ein Produkt ist, das zugleich Politik und Markt bedeutet. Es ist eben nicht nur das Schuhputzerbild des Afroamerikaners, sondern auch das des weißen Rassisten ein Produkt der Kulturindustrie. Und wie alle Produkte der Kulturindustrie schöpfen sie aus einer sozialen Realität und dem Alltag, lassen sich aber nach Bedarf manipulieren.
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