»Es gibt heute in der Welt einen dominierenden Diskurs. […] Dieser herrschsüchtige Diskurs nimmt oft die manische, jubilatorische und beschwörende [ incantatoire ] Form an, die Freud der sogenannten Phase des Triumphs in der Trauerarbeit zuschrieb. Die Beschwörung [ incantation ] wiederholt sich und wird ritualisiert, sie hält auf Zauberformeln und hält sich an Zauberformeln, wie jede animistische Magie es will. Immer wieder intoniert sie die alte Leier und den Refrain. Im Rhythmus des Gleichschritts ruft sie: Marx ist tot, der Kommunismus ist tot, ganz und gar tot, mit seinen Hoffnungen, seinem Diskurs, seinen Theorien und seinen Praktiken, es lebe der Kapitalismus, es lebe der Markt, es überlebe der ökonomische und politische Liberalismus!« 18
Marx’ Gespenster formuliert eine Reihe von Überlegungen, welche medialen (und post-medialen) Technologien das Kapital in seinem nunmehr globalen Hoheitsgebiet zum Einsatz bringen wird. Hauntology scheint insofern keineswegs exotisch, sondern der »Techno-Tele-Diskursivität«, »Techno-Tele-Ikonizität«, der »Simulakra« und »synthetischen Bilder« durchaus angemessen. Hauntology bezieht sich, die Erörterung solcher »Tele‑«Dimensionen zeigt es, auf eine Krise von Raum und Zeit gleichermaßen. Theoretiker wie Virilio oder Jean Baudrillard hatten schon länger darauf hingewiesen – und Marx’ Gespenster wäre insofern auch als eine Auseinandersetzung Derridas mit diesen Denkern zu lesen –, dass jene »Tele-Technologien« Raum und Zeit kollabieren lassen und räumlich entfernte Ereignisse dem Publikum augenblicklich präsentieren. Die »Tele-Technologie« allerdings, deren Entwicklung Raum und Zeit am radikalsten zusammenschrumpfen ließ, den Cyberspace des Internet nämlich, erlebten weder Baudrillard noch Derrida in all ihren Auswirkungen – oder besser gesagt, in all ihren Auswirkungen bislang. Doch begegnen wir hier einem Motiv, warum im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts Hauntology und Popkultur zueinander in Beziehung gesetzt werden sollten: Es war der Moment, da das Internet begann, Rezeption, Distribution und Konsum in der Kultur – und insbesondere in der Musikkultur – in einem bislang unbekannten Ausmaß zu dominieren.
Auf Musik bezogen hat Hauntology bei Kritikern wie Simon Reynolds, Joseph Stannard oder mir in erster Linie eine Ansammlung von künstlerischen Positionen bezeichnet. Die Betonung liegt dabei auf dem Ausdruck »Ansammlung«, denn diese Künstler – darunter etwa William Basinski, das Label Ghost Box, The Caretaker, Burial, Mordant Music oder Philip Jeck – haben sich in gewisser Weise auf einem Terrain getroffen, ohne einander eigentlich zu beeinflussen. Gemeinsam ist ihnen nicht so sehr ein Sound als vielmehr eine bestimmte Sensibilität, eine existentielle Ausrichtung. Diese Hauntologen sind erfüllt von einer überwältigenden Melancholie; und sie beschäftigen sich intensiv mit der Art und Weise, wie Technologie Erinnerung materialisiert. Die Faszination gilt Fernsehaufzeichnungen, Vinyl- und Tonbandaufnahmen und insbesondere dem Klang solcher im Niedergang begriffenen Technologien. Eine solche Fixierung auf die materialisierte Erinnerung führt zum vielleicht auffallendsten klanglichen Erkennungszeichen der Hauntologen: dem Knistern und Knacken, wie es die Vinyloberfläche erzeugt. Das Knacken ruft uns in Erinnerung, dass wir eine Zeit hören, die aus den Fugen ist; es durchkreuzt in uns die Illusion der Präsenz. Die normale Ordnung des Hörens wird umgekehrt, eine Ordnung, in der wir es, wie Ian Penman es einmal formuliert hat, gewohnt sind, dass das »Re‑«, die Re-Präsentation der Aufnahme unterdrückt wird. 19Und neben dem Umstand, dass es sich um eine Aufnahme handelt, rückt auch die Technologie des benutzten Abspielsystems ins Bewusstsein. Durch den hauntologischen Sound schwebt zudem nicht selten der Unterschied zwischen analog und digital: Im Äther des digitalen Zeitalters rufen viele hauntologische Tracks die Körperlichkeit analoger Medien in Erinnerung. Natürlich sind auch MP3-Dateien »materiell«, doch ihre Materialität bleibt uns weithin verborgen, im Gegensatz zur taktilen Qualität von Vinylplatten und sogar noch CDs.
Ganz zweifellos trägt die Sehnsucht nach einer solchen Materialität älterer Ordnung zu der Melancholie bei, die hauntologische Musik transportiert. Die tieferen Ursachen dieser Melancholie benennt indes der Titel eines Albums von James Leyland Kirby: Sadly, The Future Is No Longer What It Was . Hauntologische Musik erkennt implizit an, dass die Hoffnungen, wie sie die elektronische Avantgarde oder die euphorische Dance-Szene der 1990er befördert hatten, sich verflüchtigt haben – die Zukunft ist nicht nur nicht eingetreten, sondern scheint überhaupt nicht länger möglich. Doch zugleich steht die Musik für die Weigerung, das Verlangen nach der Zukunft aufzugeben. Diese Weigerung verleiht der Melancholie eine politische Dimension, insofern sie es ablehnt, sich mit dem begrenzten Horizont des kapitalistischen Realismus zu arrangieren.
An den Gespenstern festhalten
In der Freud’schen Theorie geht es bei Trauer und Melancholie gleichermaßen um die Erfahrung von Verlust. Doch während Trauer die langsame und schmerzhafte Ablösung libidinöser Energie vom verlorenen Objekt bezeichnet, bleibt bei der Melancholie die Libido an das Verschwundene geknüpft. Damit die Trauer wirklich beginnen kann, so Derrida in Marx’ Gespenster , muss der Tote beschworen werden und »die Beschwörung sich versichern, daß der Tote nicht wiederkehrt: Bloß schnell alles tun, damit die Leiche an sicherem Ort verwahrt bleibt, in Auflösung selbst da, wo sie bestattet oder einbalsamiert wurde, wie man es in Moskau gerne tat.« 20Doch gibt es diejenigen, die sich weigern, der Beisetzung zuzustimmen, und ebenso besteht die Gefahr eines Overkills, der den Toten zum Spuk werden lässt, reine Virtualität. Derrida fährt fort:
»Die kapitalistischen Gesellschaften können erleichtert aufseufzen, solange sie wollen, und sich sagen: Seit dem Zusammenbruch der totalitären Regime des 20. Jahrhunderts ist der Kommunismus tot, und er ist nicht nur tot, sondern er hat nicht stattgefunden, er war nur ein Phantom. Sie werden damit immer nur eines verleugnen, das Unleugbare selbst: Ein Phantom stirbt niemals, sein Kommen und Wiederkommen ist das, was immer (noch) aussteht.« 21
Das Gespenstische, Spukende lässt sich als misslungene Trauer deuten. Darin schwingt die Weigerung, das Phantom daranzugeben, oder auch – was bisweilen auf dasselbe hinauslaufen kann – die Weigerung des Spuks, von uns abzulassen. Das Gespenst wird es uns nicht gestatten, uns in und mit den mediokren Befriedigungen einzurichten, die uns eine vom kapitalistischen Realismus regierte Welt bietet.
Hauntology im 21. Jahrhundert verhandelt nicht das Verschwinden oder den Verlust eines bestimmten Objekts. Verschwunden ist eine Tendenz, eine virtuelle Entwicklungslinie. Ein Name dafür wäre Popmoderne . Das oben angesprochene kulturelle Ökosystem – die Musikzeitschriften und die interessanteren Formate des öffentlichen Rundfunks – gehörten zu einer solchen britischen Popmoderne ebenso wie Post-Punk, brutalistische Architektur, Penguin Taschenbücher oder der BBC Radiophonic Workshop. Die Popmoderne verteidigt rückblickend das elitäre Projekt der Moderne und stellt unmissverständlich klar, dass Popkultur nicht populistisch sein muss. Spezifisch moderne Techniken werden weiter verbreitet, kollektiv überarbeitet und entwickelt; auch der von der Moderne artikulierte Anspruch, Formen auf der Höhe der Zeit hervorzubringen, wird wieder aufgenommen und reformuliert. Mit anderen Worten, die Kultur, die den Großteil meiner frühen Vorstellungen formte, war im Wesentlichen popmodern – auch wenn ich mir dessen damals überhaupt nicht bewusst war –, und in den Beiträgen, die in diesem Buch versammelt sind, geht es darum, mit dem Verschwinden ihrer Existenzbedingungen klar zu kommen.
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